CMD - Wissen


Zahnschienen auch bei Kindern?

Die Anfrage der besorgten Mutter ist keineswegs die erste dieser Art: Ihr Kind, obwohl erst 13 Jahre alt, knirscht mit den Zähnen, oder vielleicht presst es auch, vielleicht auch beides. Nun soll eine „Zahnschiene" angefertigt werden. Ist das gut oder soll man lieber einen FreeBite nehmen?

Also der Reihe nach, zuerst das Thema „Kind“:

Kinder wachsen, bis sie „Erwachsene“ sind, danach nicht mehr – darin unterscheiden sie sich grundlegend von Erwachsenen. Bei der Geburt sind noch nicht einmal die Knochen richtig fest, besonders im Schädel, der sonst nicht durch den Geburtskanal passen würde. 

Es wird oft gestritten, ob Form die Funktion bedingt, oder anders herum. Dabei ist es eher ein gleitender Wandel, als ein „Entweder-oder“: Babys sind nach der Geburt noch wenig fest geformt, aber voller Funktion. In dieser Phase prägt die Funktion die Entwicklung der Form. Entwickelt sich im Lauf des Wachstums die Form aufgrund von Fehlfunktionen (bei der Zahnbogenentwicklung spielt z. B. die chronische Mundatmung eine große Rolle) ungünstig, so lernt der junge Erwachsene, damit umzugehen, indem er seine Funktion entsprechend an die Form anpasst. Im Alter schränken uns dann immer steifer werdende Muskeln, aufgrund von Fehlhaltungen verkürzte Bänder und Faszien immer weiter ein, bis wir uns damit abfinden, uns in der Funktion, also dem, was wir noch tun können, mehr und mehr den Limitationen der Form zu unterwerfen (zumindest, solange wir nicht beizeiten etwas gegen die Verhärtung der Form in einer Fehlhaltung unternehmen!).

Zungenpressen

Zähne gehorchen in ihrer Stellung Kräften, sonst wäre eine Zahnbewegung in der Kieferorthopädie unmöglich. Dennoch ignorierte die Kieferorthopädie in der Vergangenheit zumeist Kräfte, die im Mundraum auf natürliche Weise auftreten und machte für Missbildungen in den Zahnbögen ausschließlich genetische Ursachen verantwortlich. Dass die natürlichen Kräfte im Mundraum meist keine Beachtung finden, ist auch der Grund dafür, dass man am Abschluss einer solchen Behandlung die Frontzähne in der Regel retiniert, also künstlich festhält, indem man sie mit einem eingeklebten Draht verblockt.

Jedoch ist das Kräftespiel im Mund gar nicht besonders kompliziert:

  • Wangen und Lippen bewirken eine von außen nach innen gerichtete Kraft auf die Zahnbögen.
  • Die Zunge bewirkt eine von innen nach außen gerichtete Kraft auf die Zahnbögen.

Dort, wo diese Kräfte einander ausgleichen, entsteht eine neutrale Zone, in der man Zähne nicht festhalten muss, weil keine Kraft sie bewegt. Sind die Lippen die meiste Zeit über nicht geschlossen, so fehlt ihr Druck auf den Frontzähnen und sie bewegen sich nach vorn. Hat man hingegen eine besonders hohe Spannung in den Lippen ("stiff upper lip“, in England beliebt) und es fehlt der Gegendruck der Zunge, bewegen sich die Frontzähne eher nach hinten. Streckt man beim Sprechen oder gewohnheitsmäßig die Zungenspitze zwischen die Schneidezähne, so werden diese auseinandergedrückt und es entwickelt sich ein „anterior offener Biss“. Drückt man sich hingegen die Zunge ständig zwischen die Seitenzähne, so wird man irgendwann vielleicht bemerken, dass man eigentlich zu weit zubeißen muss, um sie in Kontakt zu bringen, und man hat einen „tiefen Biss“. Dies gilt besonders dann, wenn es bei der Schädelentwicklung während dem Zahnwechsel passiert.

CMD, Rückenschmerzen, Körperhaltung

Noch immer werden Einflussgrößen und Wechselspiele bei der CMD gerade in der zahnmedizinischen Wissenschaft sehr kontrovers diskutiert. Beispielhaft hierfür steht ein Zitat aus einer Veröffentlichung im Zahntechnik Magazin vom 10.5.2013:

"Umfangreiche Übersichtsarbeiten kamen zu dem Ergebnis, dass die verfügbare Literatur zu segmentübergreifenden neuromuskulären Wechselwirkungen von mangelnder Qualität seien und in der Folge keine pathophysiologischen Zusammenhänge abzuleiten sind.

Zwischen Biss und Haltung besteht also angeblich kein Zusammenhang. Problematisch sind solche Veröffentlichungen vor allem, weil sie meist Leitliniencharakter beanspruchen und so breite Teile der Kollegenschaft davon abhalten, bestimmte Problemgebiete überhaupt wahrzunehmen. Patienten werden in der Folge in ihrem Leiden als psychisch irgendwie entgleist stigmatisiert, selbst wenn gerade eine Veränderung im Biss der Auslöser dafür war. Es öffnet sich eine Kluft zwischen täglichen Beobachtungen in der Praxis und der Leitlinien-Wissenschaft, besonders dann, wenn diese gar zu dem Schluss kommt, dass Zähne und Biss kaum etwas mit der Funktion und Dysfunktion des Kausystems zu tun haben.

Tinnitus-Symptome durch Schiene-Tragen

Ein Schicksal, das ebenso traurig wie typisch ist, ging kürzlich aus einer E-Mail-Anfrage hervor:

„ …diese CMD-Behandlungen kosten wahnsinnig viel Geld und was dabei rauskommt, weiss man nicht… Da hat man als Patient das volle Risiko“

Ja, die CMD ist inzwischen als Pfründe entdeckt. In den 80er Jahren gab es nur wenige, die sich darauf spezialisieren wollten, weil CMD-Patienten oft schwierig sind und viel Zeit kosten. Die meisten waren froh, wenn sie einen Kollegen kannten, dem sie diese überweisen konnten. Heute hat sich das Bild gewandelt und es gibt zu viele CMD-Patienten, als dass man es sich leisten könnte, sie alle einfach wegzuschicken. Im Gegenteil, manch einer wendet beachtliche Beträge für Web-Spezialisten oder Mitgliedschaften in Listen auf, nur um bei Google ganz oben gelistet zu werden, wenn ein CMD-Patient im Internet nach Behandlern sucht. Überdies gibt es heute eine Reihe von Firmen, die sich mit ihrer Werbung direkt an Patienten wenden und ihre Produkte dann Zahnärzten unter der Aussicht auf Umsatzsteigerungen in schwierigen Zeiten vermarkten. Solche Produkte sind oft am „®“ erkennbar, wenn ihre Namen als eingetragene Warenzeichen geschützt sind. Das Thema der geschickten Arztwahl konnte ich in meinem Buch nicht erschöpfend behandeln, aber im Kapitel „Tipps für den CMD-Patienten“ wenigstens anreißen. Jedenfalls tut man gut daran, einen Blick ins Impressum einer Webseite zu werfen, um herauszufinden, ob hinter einem Internetauftritt überhaupt ein Zahnarzt steht, oder eine Firma.

Ist das Myozentrik?

Das Problem ist nicht neu. Schon in den 80ern begegnete ich immer wieder Kollegen, die ihre Bisse laut eigener Aussage „myozentrisch“ nahmen, aber von Dr. Jankelson oder seiner Vorgehensweise noch nie etwas gehört hatten. „Myozentrik“, das ist ein nettes Wort, das man gerne übernimmt und interpretiert, wie es gerade gelegen kommt!

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Bernard Jankelson (1902-1987) beschrieb die Myozentrik erstmals in den 60er Jahren unter Verwendung seines „Myomonitors“ zur Stimulation der Kaumuskulatur.

Wirklich kurios wird es, wenn man angeblich anhand von Scharnierachsen oder der Position von Gelenkkondylen „myozentrisch“ arbeitet. Denn es war gerade, weil er die Meinung seiner Kollegen an der UCLA für Unfug hielt und den Doktrinen der Gnathologie nicht folgen wollte, dass Dr. Bernard Jankelson einen eigenen Weg einschlug, der die Muskelfunktion an die Stelle von Scharnierachse und Platzierung von Gelenkkondylen stellte. Dahinter stand die Erkenntnis, dass der Unterkiefer in seiner Artikulation mit dem Kranium anders funktioniert, als sonstige Gelenksysteme im Körper. Dort geben Gelenke eine Bewegungsbahn vor und die Muskeln bewegen einen Körperteil dementsprechend. Der Unterkiefer hat jedoch 3 Artikulationspunkte: 2 Kiefergelenke und die Okklusion der Zähne. Hier wird die Bewegung durch Letztere definiert, nicht durch die Kiefergelenke. Und getroffen wird die Okklusion durch eine Meisterleistung an propriozeptiver und muskulärer Koordination.

CMD-Syndrom?

Anfragen bei den führenden Suchmaschinen sind lehrreich. Wollte vor wenigen Dekaden ein „normaler“ Zahnarzt möglichst nichts damit zu tun haben, so wird heute bares Geld dafür bezahlt, um gefunden zu werden, wenn jemand nach „CMD“ sucht. Verzeichnisse sprießen aus dem Boden, über die man CMD-Zahnärzte finden kann und sie werden von SEO-Fachinformatikern gekonnt bei Google auf die erste Seite manövriert. Wer sich dort gelistet sehen möchte, muss nur Geld an den Betreiber der Seite bezahlen und nicht, wie man vielleicht erwarten würde, irgendwelche Fähigkeiten nachweisen.  Ja, die CMD hat sich von der Ausnahme zum Geschäftsmodell entwickelt!

Ganz oben, als bezahlte Anzeige, fand sich heute eine Seite mit der Überschrift „CMD-Syndrom“. Was soll das eigentlich sein?

Kopfschmerzen, Migräne und CMD

Über die Verbreitung von Kopfschmerzen in Deutschland gibt es etliche wissenschaftliche Studien. Darin können aber nur Menschen erfasst werden, die mit ihren Kopfschmerzen zum Arzt gegangen oder zufällig an einer Umfrage teilgenommen haben. Die Größenordnung dieses Problems dürfte sich heute jedoch genauer erfassen lassen, wenn man weiß, wonach Menschen im Internet suchen – und Google weiß das!

Im Jahr 2017 registrierte Google etwa 120.000 Anfragen nach „Kopfschmerzen“ und zwar pro Monat, aus Deutschland allein. Die Tendenz ist steigend, wie die Grafik von Google Trends zeigt: Das Interesse am Thema „Kopfschmerzen“ im Internet ist heute viermal so groß wie 2004 (blaue Linie). Zum einen darf man beruhigt sein, dass man mit Kopfschmerzen kein Ausnahmefall ist, auf der anderen Seite zeigt sich jedoch auch, dass wir trotz aller Spezialisten und moderner Medizintechnik dieses Problem offenbar nicht in den Griff bekommen.

Zähneknirschen, Zähnepressen und CMD

Kürzlich flatterte die Anfrage der Versicherung eines Patienten ins Haus. Man werde seine CMD-Behandlung nur bezuschussen, wenn Zähneknirschen, genannt „Bruxismus“, vorliege. Für die Versicherung bestand die CMD aus dem Phänomen Zähneknirschen und damit fertig. Was hat es mit diesem unverstandenen Phänomen auf sich?

Zähneknirschen hinterlässt unweigerlich Spuren an den Zähnen selbst, denn es kommt zum Abrieb von Zahnschmelz. Aber auch der Zahnhalteapparat, genannt „Parodont“ bleibt nicht verschont, denn die Kräfte wirken horizontal ein, statt vertikal, wie beim Kauen. Gelegentlich wird Zähneknirschen auch nur vermutet, obwohl keine Spuren davon zu sehen sind (siehe „Jig-Schienen: Vorsicht!“). Wenn man dann nachfragt, so wird auch noch Zähneknirschen mit Zähnepressen gleichgesetzt, obwohl es hier um fundamental unterschiedliche Parafunktionen geht. „Para“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „neben“. Parafunktionen im Kausystem sind also solche, für die es eigentlich nicht vorgesehen ist, wie eben zum Beispiel Bruxismus und Zähnepressen.

Faszination Kiefergelenk

Als ich 1985 zurück nach Deutschland kam und begann, in der Praxis meines Vaters zu arbeiten, war CMD und Funktionslehre, wie man das damals gerne nannte, ein Thema für Tüftler. Obwohl die Ausbildung an den meisten Universitäten Themen wie Okklusion und Artikulatorkunde enthielt, hatte ein „normaler“ Zahnarzt kaum Lust und Zeit, um sich auf Dysfunktion zu konzentrieren. Es gab damals in diesem Bereich relativ wenige Patienten und die waren oft schwierige Leute, die einen viel Zeit kosteten. Alleine schon die zu erwartenden Versicherungsanfragen zu Privatrechnungen waren kaum der Mühe wert.

Heute ist die CMD (Cranio-Mandibuläre Dysfunktion) in aller Munde (zum Glück nicht buchstäblich). Orthopäden, Osteopathen, Heilpraktiker, Physiotherapeuten - sie alle haben dieses Thema für sich entdeckt und bauen Ausbildungsgänge dazu auf. Allein aus der zahnärztlichen Ausbildung ist es so gut wie verschwunden und bleibt einigen wenigen weiterführenden Mastership Programmen vorbehalten. Während Orthopäden, Osteopathen und Physiotherapeuten sich gegenseitig als Experten zu übertrumpfen suchen, findet sich manch ein Zahnarzt an der Seitenlinie wieder. Der Widerspruch wird vor allem dann deutlich, wenn der betroffene Patient eine eindeutige Verbindung zwischen einer Veränderung an seinem Biss und dem Beginn seiner CMD-Symptomatik erlebt hat. Aber der Biss ist ja nicht so wichtig, sagt die evidenzbasierte Wissenschaft, die die Oberaufsicht über unser Tun und Treiben übernommen zu haben scheint. Was ist da los?


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