Tinnitus-Symptome durch Schiene-Tragen

Ein Schicksal, das ebenso traurig wie typisch ist, ging kürzlich aus einer E-Mail-Anfrage hervor:

„ …diese CMD-Behandlungen kosten wahnsinnig viel Geld und was dabei rauskommt, weiss man nicht… Da hat man als Patient das volle Risiko“

Ja, die CMD ist inzwischen als Pfründe entdeckt. In den 80er Jahren gab es nur wenige, die sich darauf spezialisieren wollten, weil CMD-Patienten oft schwierig sind und viel Zeit kosten. Die meisten waren froh, wenn sie einen Kollegen kannten, dem sie diese überweisen konnten. Heute hat sich das Bild gewandelt und es gibt zu viele CMD-Patienten, als dass man es sich leisten könnte, sie alle einfach wegzuschicken. Im Gegenteil, manch einer wendet beachtliche Beträge für Web-Spezialisten oder Mitgliedschaften in Listen auf, nur um bei Google ganz oben gelistet zu werden, wenn ein CMD-Patient im Internet nach Behandlern sucht. Überdies gibt es heute eine Reihe von Firmen, die sich mit ihrer Werbung direkt an Patienten wenden und ihre Produkte dann Zahnärzten unter der Aussicht auf Umsatzsteigerungen in schwierigen Zeiten vermarkten. Solche Produkte sind oft am „®“ erkennbar, wenn ihre Namen als eingetragene Warenzeichen geschützt sind. Das Thema der geschickten Arztwahl konnte ich in meinem Buch nicht erschöpfend behandeln, aber im Kapitel „Tipps für den CMD-Patienten“ wenigstens anreißen. Jedenfalls tut man gut daran, einen Blick ins Impressum einer Webseite zu werfen, um herauszufinden, ob hinter einem Internetauftritt überhaupt ein Zahnarzt steht, oder eine Firma.

"Ich hatte schwere CMD-Symptome (rote Augen, starke Schmerzen in der Gesichts-Kaumuskulatur) und trug zunächst eine xxxx-Schiene. Beim xxxx2-Aufbau bekam ich plötzlich Tinnitus-Symptome links durch die Schiene.  Jetzt habe ich die xxxx-Schiene abgesetzt und habe seit gestern eine Schiene für den Unterkiefer, auch mit Tischchen bekommen – erneut habe ich sofort wieder Tinnitus-Symptome links und leichten Druck auf dem linken (Innen)Ohr (wie bei der xxxx-Schiene). Die UK-Schiene ist so eingeschliffen, dass ich mit dem UK in alle Richtungen gleiten kann."

Der Name der Schiene ist als Warenzeichen eingetragen und wird von einer GmbH vermarktet, daher habe ich ihn unkenntlich gemacht. Jedoch erreichen mich ebenso Anfragen zu anderen Schienen und es lässt sich im Einzelfall kaum unterscheiden, ob ein Problem am Konzept oder an einer möglicherweise fehlerhaften Ausführung liegt. Auch wenn es in Werbeprospekten gerne so angepriesen wird, keine Schiene (auch kein Gerät) hat je eine eingebaute magische Wirkung. Maßgeblich ist immer, ob der Einsatz passend zum individuell vorliegenden Problem und fehlerfrei erfolgt.

Jedoch möchte ich sehr wohl darauf eingehen, welche Funktionen eine Schiene – jede Schiene – eigentlich hat. Zunächst hat sie zwei Seiten, eine ist dem Trägerkiefer zugewandt, die andere dem Gegenkiefer, der darauf beißt. Die erste hat die Funktion, die Schiene im Trägerkiefer zu verankern, die sie jedoch nicht zufriedenstellend erfüllt, wenn sie darauf spannt, federt oder schaukelt. Die zweite Seite hat die Funktion, die Zahnkontakte im Biss zu verändern. Sie kann diese auf wenige Punkte reduzieren (Beispiel Jig-Schiene), sie kann sie dem Zufall überlassen („non-adjustierte“ Schienen, die manchmal auch als „Knirscher-Schienen“ eingesetzt werden), sie kann die Bissposition aufheben, indem sie Gleiträume nach allen Seiten öffnet, oder sie kann eine neue Zielvorgabe für den Biss bieten.

Schiene ist also ≠ Schiene! Es kommt ganz darauf an, welches Ziel damit verfolgt wird, welcher Überzeugung in Bezug auf die craniomandibuläre Funktion man anhängt, ob die technische Ausführung fehlerfrei ist und ob sich jemand die Zeit dazu nimmt, überhaupt über diese Dinge nachzudenken. Soll mit einer Schiene eine neue Bissposition eingestellt oder ausprobiert werden, so ist wichtig, dass:

  1. Die Schiene auf dem Trägerkiefer richtig passt und dort nicht anders sitzt, als auf dem Modell, auf dem sie hergestellt wurde, was in ungeplanten Zahnkontakten im Biss resultieren würde.
  2. Diese Bissposition störungsfrei eingenommen werden kann.
  3. In dieser Bissposition stabile und ausgeglichene Zahnkontakte bestehen, sodass sie der Propriozeption eine Zielvorgabe ist.
tinnitus

Tinnitus ist leider keineswegs lustig!

Die nächste Frage ist, wie viel diese Zielvorgabe taugt. Diesbezüglich laufen die vorherrschenden Meinungen wild auseinander und hängen von der Überzeugung ab, die der Zahnarzt in Bezug auf Funktion und Dysfunktion des Kausystems hat bzw. vielleicht auch nur deswegen folgt, weil er es im Studium so gelernt hat. Eine einheitliche Meinung zum Wesen der CMD und zu ihrer korrekten Behandlung gibt es nicht. Weitverbreitet mag die Vorstellung sein, dass z. B. die Frontzahnführung entscheidend für Funktion oder Dysfunktion des Kausystems ist. Entsprechende Schienen erkennt man an den sehr prominent ausgestalteten Konturen im anterioren Bereich. Eigentlich sollten nach dieser Sichtweise alle Menschen, bei denen die Schneidezähne im Biss keinen Kontakt haben, CMD-Patienten sein. Die Erfahrung zeigt aber gerade in dieser Gruppe einen recht geringen Anteil von Patienten mit anterior offenem Biss…

Nach neuromuskulären Gesichtspunkten sucht man mit einer Schiene eine Bissposition einzustellen, in der sich die Muskulatur besonders wohlfühlt. Meist ist dies eine, in der die Kaumuskeln kräftig und symmetrisch zupacken und von der aus sie auch optimal locker lassen können, weil der Kiefer in keiner verschobenen Position gehalten werden muss, um beim nächsten Biss die Verzahnung wieder zuverlässig zu treffen.

Eines wird aus dem obigen Anschreiben immerhin klar: Die Dame beobachtete, dass ihr Tinnitus durch eine Schiene ausgelöst wurde, also können Wechselspiele mit dem Biss offensichtlich bestehen. Generell sollte Tinnitus mit einer Schiene behandelbar sein, solange er mit dem Biss überhaupt etwas zu tun hat, und nicht durch ein Lärmtrauma, Infektion o. ä. entstanden ist. Obendrein muss der Biss auf der Schiene hierfür richtig eingestellt sein, um Tinnitus nicht auszulösen, sondern zu beseitigen. 

Jedoch wirft die Anfrage ein weiteres Problem auf: Individuell hergestellte Schienen kosten Geld, manchmal sogar ziemlich viel! Es wäre schön zu wissen, ob im individuellen Fall ein Zusammenhang zwischen Biss und Tinnitus besteht, bevor man eine solche Investition in Erwägung zieht!

Dies ist die Domäne der Beißkissen, denn sie müssen nicht individuell angefertigt werden, sondern stehen industriell hergestellt relativ kostengünstig zur Verfügung. Sollte eines dieser Kissen nicht gut funktionieren, so haben wir heute den Luxus einer Auswahl, sei es AqualizerAquaSplint mini oder die neuen FreeBites, die neben der üblichen Wasserfüllung auch mit einer federnden Luftfüllung erhältlich sind, sowie in zwei grundsätzlich unterschiedlichen Formen. Durch den richtigen Einsatz eines solchen Kissens lässt sich feststellen, ob ein Symptom – hier Schmerzen in der Gesichts- und Kaumuskulatur bzw. Tinnitus – im Zusammenhang mit dem Biss steht. Hierfür sollte es dann getragen werden, wenn diese Symptome normalerweise auftreten. Ist dies typischerweise tagsüber der Fall, wäre es z. B. sinnlos, das Kissen nachts zu tragen – auch wenn es vielleicht so in der Anleitung steht. Schafft das Kissen Abhilfe, so kann man die Kieferposition näher studieren, bei der die Symptomlinderung eintritt. Es wäre abenteuerlich, jetzt eine teure individuell angefertigte Schiene in einer völlig anderen Bisslage einzustellen, über die man gar nichts weiß und welche womöglich zusätzliche Beschwerden verursacht!

Jedoch wäre es auch hilfreich, vor Beginn einer Behandlung eine Vorstellung davon zu entwickeln, warum und wie dieses Problem überhaupt entstanden sein könnte.

"…mir fehlen 4 Backenzähne …die mir als Kind entfernt wurden, weil meine beiden Kiefer sehr klein sind und man Angst hatte, die Zähne verschieben sich. Der UK beisst (etwas?) zurück, weil der OK so klein ist. Es wurde festgestellt, dass ich links eine Diskusverlagerung ohne Reposition habe. Beim Knirschen treffen die Backenzähne ganz hinten links aufeinander."

An diesem Absatz wird deutlich, wie aufmerksam Patienten ihr eigenes Leiden verfolgen. Das ist auch logisch, denn wer wäre mehr davon betroffen, als sie selbst? Und doch überrascht es Teilnehmer bei Kursen zur CMD-Diagnose immer wieder, wenn ich die Wichtigkeit einer strukturierten Anamnese betone, denn oft wird dieser kaum Zeit gewidmet.

Der Mensch hat es nicht geschafft, 2 ½ Millionen Jahre Entwicklungsgeschichte zu überleben, indem er zu viele Zähne hat, oder zu große Zähne wachsen lässt, die nicht in seine Kiefer passen. Wenn heute behauptet wird, dies sei genetisch so verankert, so ergibt dies einfach keinen Sinn! Bei Urvölkern findet man Zahnfehlstellungen bzw. schiefe Zähne fast nie, ebenso bei Affen und anderen Tierarten. Treten sie heute bei uns so häufig auf, so muss dies einen Grund haben!

 Und immer wieder finde ich solche Gründe in Form von Behinderung der Nasenatmung, offener Mundhaltung, dysfunktionellen Zungenbewegungen (z. B. beim Schlucken) und/oder chronisch geschwollenen Mandeln, welche die Zunge aus dem Rachen verdrängen. Verändere ich aber das Gleichgewicht der Kräfte, die auf Zähne einwirken, so werden sie sich bewegen. Das ist schließlich der Grund dafür, dass Kieferorthopädie funktioniert und es Kieferorthopäden überhaupt gibt! Und doch stellt manch einer die Rolle von mundeigenen Kräften bei der Entwicklung von Zahnschiefständen eifrig infrage und möchte alles auf Genetik schieben…

Bei der Kieferorthopädie mit Extraktion der Prämolaren muss man meist das gesamte Frontzahnsegment zurückbewegen, um die Extraktionslücken zu schließen, z. B. mithilfe eines sogenannten „Headgears“. Nicht nur, dass man so den Funktionsraum der Zunge einengt, dabei kann die Stellung der Schneidezähne so steil werden, dass der Unterkiefer seine liebe Mühe damit hat, Vorkontakten darauf aus dem Weg zu gehen. Er muss womöglich sein gesamtes Bewegungsmuster nach retral verlagern und belastet dabei die Kiefergelenke in einer Richtung, in der sie nicht sehr stabil sind: Es kann zum Diskusvorfall kommen. Geschieht dies, so kann sich die Kondyle des betroffenen Kiefergelenks höher in die Gelenkgrube stellen, als es bei eingelagertem Diskus möglich ist. Und dabei kommen sich die hinteren Backenzähne oben und unten näher. Sollte man sie jetzt einschleifen? Keinesfalls! So würde man verhindern, dass jemals wieder genug Gelenkspalt für eine gesunde Diskusfunktion entstehen kann!

Heute ist man von dieser noch vor einigen Jahren weit verbreiteten Vorgehensweise vielfach wieder abgerückt, aber nicht, weil Patienten inzwischen genetisch wieder unbelastet sind, sondern weil man erkannt hat, dass sie in vielen Fällen schlicht falsch war!

"Frage: Wieso habe ich wieder – auch mit der UK-Schiene - diese Tinnitus-Symptome? Gehen die wieder weg? Das macht mir echt Angst! Ich fühle mich nicht ermutigt, die UK-Schiene zu tragen, weil das den Tinnitus links auslöst. Ich meine, ich muss und werde die tragen, schließlich kostet das wahnsinnig viel Geld, aber eine Schiene sollte doch grundsätzlich den Tinnitus minimieren und nicht verstärken?"

Tinnitus ist prinzipiell eine schlecht verstandene Problematik und kann viele Ursachen haben. Man sollte damit keineswegs leichtsinnig umgehen, wie einem jeder HNO bestätigen dürfte! Und ja, eine Schiene sollte keinen Tinnitus auslösen, wo vorher keiner war, egal wie viel Geld sie kostet oder welchen Namen sie trägt!

"Als Patient macht man da einiges durch, ich war bis letztes Jahr eine gesunde junge Frau. Ich kenne das gar nicht, krank zu sein. Dann ist alles gecrasht. Als Patient klammert man sich an die Schiene wie an den letzten Rettungsanker. Ohne Schiene kann ich derzeit auch nicht leben." 

Mein Buch „CMD: Kein Schicksal!“ habe ich genau aus diesem Grund geschrieben, nicht aus der Hoffnung heraus, durch eine solche Kleinauflage reich zu werden. Es geht nämlich nicht nur Patienten so, auch viele Kollegen wollen gewissenhaft arbeiten, verzweifeln aber an diesem Problem, zu dessen Bewältigung in ihrer Ausbildung sie meist fast nichts gelernt haben. Es ist bei all dem Gedöns zwischen (Schein-) Wissenschaft, Richtlinien, Werbung und Geschäftemacherei, völlig gegensätzlichen Meinungen und teils fanatisch vertretenen Standpunkten wirklich nicht einfach, einen klaren Gedanken zur CMD zu fassen! Aber es gibt sie dennoch, die folgerichtigen Schritte, sowohl für Patienten als auch für Therapeuten. 

Was wäre hier mein konkreter Rat?

Zurück auf eines der Beißkissen, auch wenn es billig ist :-) Ausprobieren, ob man damit die Gesichtsschmerzen loswerden kann, ohne Tinnitus zu bekommen. In diesem Blog findet sich eine Beschreibung der Vorgehensweise am Beispiel des FreeBites, das für andere Beißkissen ebenso anwendbar ist. Erfährt man Erleichterung, so nimmt man bei aufrechter Körperhaltung das Kissen aus dem Mund und setzt, ohne zwischenzeitlich auf die eigenen Zähne zu beißen, die Schiene ein. Nun tastet man ganz leicht nach den Zahnkontakten, die sich beim leichten Schließen ergeben. In diesem spezifischen Fall würde ich vor allem darauf achten, ob die linken hinteren Zähne gut aufkommen, oder ob man nachdrücken muss, bis sie aufbeißen. Außerdem sollte man nicht an irgendwelchen Zähnen in eine andere Kieferstellung rutschen müssen, um in den Biss auf der Schiene zu gelangen. Reagieren die Symptome nicht auf das erste Beißkissen, so würde ich ein anderes versuchen, bzw. eine andere Höhe. Ratschläge zur Auswahl gibt es hier und hier.

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