Seit einigen Jahren gelten Jig-Schienen quasi als Patentrezept, sei es für die CMD, Kopfschmerzen oder Zähneknirschen. Das Schöne ist, dass sie besonders einfach herzustellen sind und man dafür nichts über den Biss oder die Okklusion der Zähne wissen muss. Was im Endeffekt dahinter steckt, ist schlicht der Versuch, den Patienten davon abzuhalten, zuzubeißen. Beschwerden, welche durch den Biss entstehen, können so auf einfache Weise verbessert werden.
Die verschiedenen Zahntypen im Gebiss haben sich für unterschiedliche Funktionen jeweils optimal entwickelt: Molaren haben jeweils mehrere Wurzeln, die sie besonders massiv im Knochen verankern und können daher die höchsten Kräfte beim Kauen aufnehmen. Sie sind die Stützzähne im Gebiss und liegen dort, wo auch die Züge der Kaumuskulatur auftreten. Die Prämolaren sind zierliche Helfer der Molaren und die Eckzähne können mit ihren langen Wurzeln Kippkräfte besser aufnehmen als andere Zähne.
Die Schneidezähne sind im Parodont mit besonders feinfühligen Sensoren bestückt, sie sind die Tastzähne im Gebiss. Sticht einen beim Fischessen z. B. eine kleine Gräte, so bugsiert man sie zwischen die Schneidekanten, denn dort kann man sie abtasten und entscheiden, ob man sie schlucken kann, oder sie so festhält, dass man sie mit den Fingern greifen kann. Die Seitenzähne weisen kein solch feines Feingespür auf, empfinden viel „stumpfer“. Legt ein Patient mit einem gesunden Biss die Zähne leicht aufeinander, so würden seine Schneidezähne einen dünnen Folienstreifen nicht festhalten. Erst wenn er kräftiger zubeißt und die Seitenzähne eine Winzigkeit nachgeben, würde ihm dies gelingen. Die Schneidezähne sind eben keine Stützzähne!
Trägt man eine Jig-Schiene, so kann man auf keinen Zähnen mehr Kontakt finden, außer auf eben diesen sensiblen Tastzähnen. Der erhoffte Effekt ist der, dass man das Zubeißen dann ganz sein lässt, weil die Abstützung isoliert auf den Schneidezähnen zu unangenehm ist. Und oft funktioniert das auch: Wenn man damit aufhört, ständig zuzubeißen, entspannt meist der Nacken! Und da behaupten unsere „wissenschaftlichen“ Kollegen, es gäbe keine Zusammenhänge zwischen dem Biss und dem Nacken, sowie der restlichen Körperhaltung!
Ja, sie wirken, diese Jig-Schienen, aber der Schuss kann auch nach hinten losgehen, denn das Zubeißen gehört zur gesunden Funktion. Man versuche nur, ob es einem gelingt, zu schlucken, ohne dabei zuzubeißen. Ja? Dann wiederholen Sie den Versuch und achten darauf, was Sie dabei mit Ihrer Zunge machen! Man muss den Unterkiefer irgendwie abstützen, um ein Widerlager für die Muskelzüge zu haben, die beim Schlucken ausgelöst werden. Dabei melkt die Zunge den Speichel regelrecht in den Rachen. Außer, sie kann das nicht, weil sie für die Abstützung des Kiefers herhalten muss, um zu vermeiden, auf die sensiblen Schneidezähne zu beißen!
Die Angewöhnung eines dysfunktionellen Schluckmusters ist einer der negativen Nebeneffekte, die sich bei der Verwendung von Jig-Schienen einstellen können. Dabei kann man sich anstelle einer normalen Schluckbewegung angewöhnen, mit der Zunge seitlich zwischen die Zähne zu fahren, oder sie an den Gaumen zu pressen. Ein weiterer negativer Effekt tritt ein, wenn man nach einiger Zeit die „Scheu“ der Schneidezähne überwindet und sich angewöhnt, doch auf sie zu beißen. Nicht nur lässt dann oft die Wirkung der Jig-Schiene nach, es kann nun auch passieren, dass sich der gesamte Zahnbogen verformt und man irgendwann plötzlich ein schwieriges kieferorthopädisches Problem vor sich hat, bei dem der Biss anterior offen ist, Molaren herunterhängen und vielleicht im Biss auf den Zähnen überhaupt nichts mehr passt.
Last not least beobachte ich immer wieder auch Kiefergelenkkompressionen, welche nach dem Tragen von Jig-Schienen auftreten. Nimmt der Patient die Schiene heraus, kommt er nur noch auf den hinteren Molaren auf und muss sich mühen, mit den restlichen Zähnen Kontakt zu finden. Wenn er Pech hat, gelingt ihm dies nach einiger Zeit überhaupt nicht mehr. Ist der Biss anterior erst einmal offen, erkundet bald die Zunge diesen neuen Freiraum, findet ihren Weg zwischen die Schneidezähne, drückt diese auseinander, bildet beim Schlucken einen anterioren Zungenschub au,s und ein anfangs unscheinbares Problem wird dann womöglich zum Desaster.
In meiner Praxis hat sich in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe Patienten angesammelt, die durch das Tragen von Jig-Schienen in ernste Schwierigkeiten geraten sind. Bei mehr als einer war gar schon die chirurgische Versetzung von Kiefern geplant, ein anderer ist seit Jahren in Schmerztherapie und kann ohne Medikamente nicht mehr leben. Das ist besonders ärgerlich, wenn solche Jig-Schienen ohne Not eingegliedert wurden, weil es hieß, der Patient knirsche mit den Zähnen, ohne dies zu bemerken. Bruxismus hinterlässt Spuren auf den Zähnen und wenn davon nichts zu sehen ist, hat er nie vorgelegen!
Ich selbst habe Jig-Schienen noch nie favorisiert, denn sie wirken zwar, lösen aber kein Problem, das einer Dysfunktion zugrunde liegt. Sie sind bequem, können aber das Nachdenken und die Suche nach individuellen Zusammenhängen bei der CMD nicht ersetzen. Bei bestimmten Problemen erzielt man vielleicht eine schnelle symptomatische Linderung, verschiebt dabei aber nur die eigentliche Problematik. In folgenden Fällen rate ich vom Einsatz von Jig-Schienen nachdrücklich ab:
- Bei Mundatmern, offener Mundhaltung, langem Untergesicht und schwachem Lippentonus.
- Bei einer instabilen Verzahnung, z. B. nach Kieferorthopädie, oder bei Fehlfunktion der Zunge.
Soll dennoch eine Jig-Schiene eingesetzt werden, rate ich zu folgenden Vorsichtsmaßnahmen:
- Die Schiene keineswegs nur segmentiert im vorderen Bereich des oberen Zahnbogens anfertigen, sondern die Seitenzähne überdecken.
- Den Jig niemals einfach erhöhen, wenn sich nach einiger Tragezeit erneut Kontakt auf den Seitenzähnen einstellt. Dies ist ein Zeichen dafür, dass sich Zahnbögen verformen, oder die Kiefergelenke nachgeben und man dabei ist, irreversible Veränderungen zu verursachen!
- Den Biss regelmäßig überprüfen, indem man den Patienten leicht auf Registriersilikon beißen lässt. Sobald sich der Biss anterior beginnt zu öffnen und das Silikon nur noch von den hinteren Molaren perforiert werden kann, werden möglicherweise irreversible anatomische Veränderungen verursacht!