Myozentrik

Vor einigen Jahren feierten die Amerikaner das 50. Jubiläum der Myozentrik. Was genau ist das eigentlich? 

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J1 Myomonitor, mit dem Jankelson in den 60er Jahren seine Myozentrik entwickelte.

Der Urheber der Myozentrik ist Dr. Bernard Jankelson, ein Zahnarzt in Seattle an der Nordwestküste der USA. Weiter im Süden, in Los Angeles, war die Gnathologie entstanden, eine Sichtweise, bei der die Kiefergelenke die zentrale Bedeutung bei der Funktion und Dysfunktion des Kausystems einnehmen. Man sah sie als Scharniergelenke mit einer gemeinsamen Achse, um die sich der Unterkiefer beim Öffnen und Schließen dreht,  die sich bei horizontalen Bewegungen aber auch verschieben kann. Bevor man diese Verschiebungen jedoch messtechnisch erfassen konnte, musste man erst einmal die Scharnierachse auffinden und hierfür war es notwendig, den Unterkiefer des Patienten von außen her mit der Hand zu führen und dabei mehr oder weniger stark zu verschieben. 

Viele Patienten konnten diesen Vorgang bereits bei ihrem Zahnarzt am eigenen Leib miterleben und gerade hierzulande hat sich diese Sichtweise bis heute erhalten, denn bei den Universitäten scheinen sich keine Vorgehensweisen dafür etabliert zu haben, wie man mit den natürlichen Eigenbewegungen eines Patienten umgehen kann. Und so lernen Studenten darüber in der Regel auch nichts, und ebenso wenig darüber, wie man mit Muskeln und ihren chronischen Verspannungen umgehen kann.

Jankelson war nun unzufrieden mit dieser Vorgehensweise, denn sie brachte mit sich, dass er praktisch bei jedem Patienten den Unterkiefer aus seiner natürlich gewachsenen Position zum Oberkiefer verschieben sollte. Da er damals sein Geld hauptsächlich mit Totalprothesen verdiente, war es ihm aber ein Anliegen, Bisse passend zu den Muskelzügen des Patienten einzustellen, statt zu einer vom Zahnarzt verschobenen Position. Patienten mit Totalprothesen können sich wesentlich weniger gut an einen falschen Biss gewöhnen als Patienten mit eigenen Zähnen, denn ihnen fehlen die Zähne und das Feingespür, das sie vermitteln. Im Zweifelsfall beißen sie daher eher so zu, wie ihnen „der Schnabel gewachsen ist“ und verschieben dabei die Prothesen. Dies führt aber wiederum zur vorzeitigen Degeneration der Kieferkämme, die für den Halt von Prothesen von eminenter Bedeutung sind. Aus diesem Grund war er auch bei weitem nicht der einzige Totalprothetiker, der den gnathologischen Thesen kritisch gegenüber stand.

Gleichwohl war sich Jankelson aber bewusst, dass Bisse sich in Folge Lauf von Zahnverlusten und von Wanderungen, wenn Nachbarzähne in die Lücken einkippen, erheblich verschieben können. Wurden die letzten verbliebenen Zähne dann gezogen, so ging damit auch jede Orientierung verloren, wie ein Patient seinen Unterkiefer bewegen sollte, um einen Biss zu erreichen. Besser war es da, vor der Anfertigung solcher Prothesen verschobene Stellungen des Unterkiefers zu begradigen und den Biss auf den Prothesen dann so einzustellen, dass eine Schließbewegung einfachen Muskelzügen folgend direkt in die Bisslage führte. Nur, wie soll man verschobene Bisse begradigen, wie Muskeln entspannen, wie ihre Zugrichtung bestimmen?

Jedenfalls bestimmt nicht, indem man mit der Hand am Kinn des Patienten herumdrückt!

Im Gespräch mit einem befreundeten Physiologen an der University of Oregon ergab sich dann die Idee, TENS (Transkutane Elektrische Neural-Stimulation) zu nutzen, um mit einzelnen Impulsen in relativ langsamer Abfolge Kontraktionen in der Kaumuskulatur auszulösen, die tatsächlich in Bewegungen des Unterkiefers resultierten. Bald zeigte sich, dass man damit nicht nur eine natürliche Bewegungsrichtung für den Unterkiefer ermitteln konnte, sondern, dass diese gleiche TENS-Therapie auch eine erstaunliche Wirkung bei der Lösung chronischer Muskelverspannungen erzielte, wenn man sie nur lang genug laufen ließ (etwa 30-60 Minuten). Wichtig dabei war, dass der Unterkiefer dabei locker bleibt und nicht etwa in den verschobenen Biss, z. B. auf einer alten Prothese, zugebissen wurde, denn das führte zur Neuetablierung der gewohnten Verspannungsmuster.

So entstand eine neue Ruhelage des Unterkiefers, die man „physiologisch entspannte Ruhe-Schwebe“ nannte. Und von dieser Ruheschwebe ausgehend erreicht der Unterkiefer, nachdem er 1-2 mm geschlossen wurde, die von Jankelson angestrebte Bissposition, die er vor über 50 Jahren „Myozentrik“ taufte.

Sein TENS-Gerät nannte er „Myomonitor“ und es wird auch nach seinem Tod 1987 von seiner Firma Myotronics, Inc. weiter hergestellt und heute weltweit vertrieben. Die Muskelentspannung ist ein unabdingbarer Teil der Vorbereitung einer myozentrischen Bissregistrierung, die übrigens auch nicht mit dem Patienten in Rückenlage, sondern bei aufrechter Körperhaltung ermittelt wird, und zwar ohne, dass ihm dabei vom Zahnarzt der Unterkiefer verdrückt  wird.

TENS ist heute aber schon lange kein Geheimnis mehr. TENS-Geräte finden sich inzwischen sogar in Ramschläden und bei Discountern, vom Internet ganz zu schweigen. Und doch ist TENS nicht gleich TENS

Nachdem wir 50 Jahre lang die Vorgehensweise von Jankelson ungefragt kopiert haben, wird es Zeit, Techniken für die Muskelentspannung genauer zu beleuchten. Ist die Stimulation, die mit den alten Analoggeräten möglich war, heute noch immer das Optimum, oder wäre mit den modernen Digitalgeräten von inzwischen eine bessere Effizienz möglich? Welche Vorteile bringen die vier Kanäle im heutigen J5-Myomonitor gegenüber den zweien im J4? Gibt es  Alternativen zu diesen extrem teuren Geräten? Gibt es vielleicht noch ganz andere Möglichkeiten zur Entspannung der Kaumuskulatur?

In  diesem Abschnitt meines Blogs möchte ich gerne einige Geheimnisse lüften und Mythen entzaubern.

>> Biomechanik der Myozentrik?

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