Ist das Myozentrik?

Das Problem ist nicht neu. Schon in den 80ern begegnete ich immer wieder Kollegen, die ihre Bisse laut eigener Aussage „myozentrisch“ nahmen, aber von Dr. Jankelson oder seiner Vorgehensweise noch nie etwas gehört hatten. „Myozentrik“, das ist ein nettes Wort, das man gerne übernimmt und interpretiert, wie es gerade gelegen kommt!

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Bernard Jankelson (1902-1987) beschrieb die Myozentrik erstmals in den 60er Jahren unter Verwendung seines „Myomonitors“ zur Stimulation der Kaumuskulatur.

Wirklich kurios wird es, wenn man angeblich anhand von Scharnierachsen oder der Position von Gelenkkondylen „myozentrisch“ arbeitet. Denn es war gerade, weil er die Meinung seiner Kollegen an der UCLA für Unfug hielt und den Doktrinen der Gnathologie nicht folgen wollte, dass Dr. Bernard Jankelson einen eigenen Weg einschlug, der die Muskelfunktion an die Stelle von Scharnierachse und Platzierung von Gelenkkondylen stellte. Dahinter stand die Erkenntnis, dass der Unterkiefer in seiner Artikulation mit dem Kranium anders funktioniert, als sonstige Gelenksysteme im Körper. Dort geben Gelenke eine Bewegungsbahn vor und die Muskeln bewegen einen Körperteil dementsprechend. Der Unterkiefer hat jedoch 3 Artikulationspunkte: 2 Kiefergelenke und die Okklusion der Zähne. Hier wird die Bewegung durch Letztere definiert, nicht durch die Kiefergelenke. Und getroffen wird die Okklusion durch eine Meisterleistung an propriozeptiver und muskulärer Koordination.

Wesentlich bei der Myozentrik ist nicht nur, dass man eine patienteneigene Schließbewegung verwendet. Wesentlich ist viel mehr die Erkenntnis, dass wir hier mit einem selbstregulierenden System arbeiten, in dem es fast keine Fixpunkte gibt. Farrar haben wir das Verständnis der Diskusverlagerung im Kiefergelenk zu verdanken und Mongini das Wissen um dessen Formveränderungen, dem Remodeling, das umfangreicher ablaufen kann, als man dies zuvor hätte glauben wollen. Die Kiefergelenke ändern also ihre Form, Position und Grenzbewegung gemeinsam mit anderen Parametern der kraniomandibulären Funktion, allen voran der Okklusion. Beim CMD-Patienten sehen wir daher Kiefergelenke, die zu seiner Malokklusion passen!

Die Myozentrik hat einen Faktor entdeckt, der erstaunlicherweise oft noch die beste Konstanz aufweist: Die Muskulatur mit ihrer neuralen Steuerung. Gelingt es, die Muskulatur auf ihre physiologische Ruhelänge zu bringen, so lösen sich mit den chronischen Verspannungen auch die Kompensationen (oder „Akkommodationen“ in der Ausdrucksweise der Jankelsons), die dadurch unterhalten werden. Was resultiert, ist eine für den Behandler zunächst nicht exakt vorhersehbare Stellung des Unterkiefers samt seiner Gelenke, die so genannte physiologisch entspannte Ruheposition, aus der sich die Myozentrik durch eine isotonische Schließbewegung um den Betrag der interokklusalen Distanz ableitet.

Jedoch gibt es nicht nur unter „Nicht-Myozentrikern“ Ansätze zur Zweckentfremdung der Myozentrik. Hersteller und Verkäufer von einschlägigen Geräten argumentieren gerne, dass eine Myozentrik ohne teure Technik nicht möglich sei. Dem seien zwei Argumente entgegen gehalten:

  1. Dr. Bernad Jankelson beschrieb seine Myozentrik lange bevor er Geräte zur Bewegungsaufzeichnung oder Elektromyographie entwickelt hatte, also muss diese auch ohne solche Geräte möglich sein. Natürlich gab es auch einen Grund, warum er diese Geräte entwickelte: Sie erleichtern die Identifizierung und Kontrolle der Myozentrik.
  2. Sein Sohn, Dr. Robert Jankelson, ließ sich in den 90er Jahren nach intensiver Debatte mit mir auf eine Definition der Myozentrik festlegen, die keinerlei Geräte beinhaltet, sondern nur auf die physiologischen Gegebenheiten eingeht. Hintergrund war damals die deutsche Wiedervereinigung, nach der ich nicht gewillt war, unsere ostdeutschen Kollegen in meinen Kursen zum Kauf von für sie damals  unerschwinglichen Geräten zu nötigen, nur, um sich mit der Myozentrik beschäftigen zu können. Bei der Debatte mit Jankelson ging es mir daher auch um die Entscheidung, ob ich eine andere neuromuskuläre Technik für die Bissnahme begründen sollte, die auch ohne hochtechnologischen Aufwand auskommt, oder bei der Myozentrik bleiben konnte. Ich konnte und ebenso konnten zahlreiche Kollegen, die Myozentrik seither mit gutem Erfolg betreiben, manche unter Zuhilfenahme der Kontrollmöglichkeiten moderner Messtechnik, andere, indem sie einfach vorsichtig und sorgfältig vorgehen, denn Fehler sind, wie überall, auch bei der Myozentrik möglich. Die letzten Endes gefundene Definition lautet wie folgt:

Die Myozentrik ist die Unterkieferposition, die sich nach einer ungezwungenen isotonischen Elevation aus einer physiologisch entspannten Ruhe-Schwebe nach Überbrückung einer vom Behandler festgelegten interokklusalen Distanz ergibt.

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Robert Jankelson verfasste das Textbuch zur Myozentrik „Neuromuscular Dental Diagnosis and Treatment“, in dem diese jedoch nicht ausdrücklich definiert wurde.

Physiologisch entspannte Ruhe-Schwebe: Das ist es, warum die interdisziplinäre Kooperation bei der Myozentrik so viel Spaß macht, denn die unterschiedlichsten Therapeuten können ihre Fertigkeiten je nach Bedarf einbringen und diese drücken sich auch tatsächlich in der Ermittlung der Bisslage aus. Jedoch ist zu beachten, dass die Ruhe-Schwebe in der Regel an die intekuspidale Position gebunden ist. Liegt diese z. B. 1 mm rechts der Schädelmitte, so wird der Unterkiefer auch dann rechts verschoben gehalten, wenn nicht zugebissen wird. Während immer wieder in eine solch verschobene Position gebissen wird, wird sich diese auch nicht auflösen lassen. Es ist daher wichtig, dass der Patient während der Therapie ein Medium zwischen den Zähnen trägt, welches die Einnahme der Interkuspidation verhindert. Luft- oder wassergefüllte Kissen eignen sich hierfür besonders gut, weil sie dem Unterkiefer eine ausgeglichene Abstützung auch in Stellungen ermöglichen, in denen die Zahnreihen nicht passen würden. Klassisch erfolgt die muskuläre Therapie durch eine Sonderform der EMS (elektrischen Muskelstimulation), bei der einzelne Impulse mit großer Impulsbreite sehr niederfrequent auf die Kaumuskulatur übertragen werden.

Ungezwungene isotonische Elevation: Isotonisch ist eine Bewegung, wenn sie unter dem geringstmöglichen Widerstand erfolgt. Im Bezug auf die Myozentrik ist hier in erster Linie zu erwähnen, dass der Unterkiefer des Patienten nicht durch die Hand des Behandlers geführt wird. Lauritzen empfahl dies 1974 in seinem Buch, mit der Begründung, dass die quergestreifte Muskulatur zu keinen präzisen Bewegungen in der Lage sei. Allerdings wurde dabei übersehen, dass die Manipulation durch den Behandler ebenfalls mittels quergestreifter Muskulatur erfolgt, jedoch ohne den Vorzug des propriozeptiven Feedbacks, welches der Patient bei eigenen Bewegungen aus den beteiligten afferenten Rezeptoren erhält.
Zum zweiten ist anzumerken, dass zu einer wirklich ungezwungen isotonischen Bewegung auch die Absenz von Störungen gehört, wie sie z. B. aus einer schiefen Körperhaltung resultieren. Insofern diese nicht therapierbar ist, müssen Kompromisse eingegangen werden, aber der myozentrischen Bissbestimmung sollte eine möglichst aufgerichtete, jedoch ungezwungene Körperhaltung zugrunde liegen.

Überbrückung einer vom Behandler festgelegten interokklusalen Distanz: Hier überlässt Jankelson die Entscheidung über die Bisshöhe dem Zahnarzt, was diesem die Möglichkeit gibt, auch ein Auge auf den geringstmöglichen Aufwand bei einer okklusalen Sanierung zu haben. Gewöhnlich ist hier eine interokklusale Distanz zwischen 1 und 2 mm, jedoch bleibt der isotonische Charakter der Schließbewegung auch darüber hinaus erhalten.

Die wesentlichen Elemente der Myozentrik anhand einer Aufzeichnung von habituellen Bewegungen nach der Therapie

Die Myozentrik leitet sich also, im Gegensatz zu anderen Techniken, aus einer zuvor therapierten Ruhe-Schwebe des Unterkiefers ab und in diese Therapie fließen Maßnahmen zur Aufrichtung der Kopf- und Körperhaltung meist mit ein. Hat man die technischen Möglichkeiten, die myozentrische Bisslage elektromyographisch zu überprüfen, so erwartet man

  1. eine ausgeglichen niedrige Ruhespannung der beteiligten Muskulatur in Kopf und Nacken, sowie
  2. ein ebenfalls ausgeglichenes und möglichst hohes Leistungspotential der Kaumuskulatur im Biss.

Untersuchungen von Walter Schöttl haben gezeigt, dass die myozentrische Position zwar in vielen Fällen anterior zur habituellen Position des Unterkiefers liegt, gelegentlich jedoch auch posterior dazu. Wichtiger noch mag die Auflösung von Verdrehungen um dessen drei Lageachsen sein: 

  • die Längsachse bei einseitigen Kompressionen der Kiefergelenke,
  • die Querachse bei beidseitiger Kompression der Kiefergelenke,
  • die Hochachse bei transversalen Verlagerungen der Kiefergelenke um einer posterioren Okklusalstörung (meist einer Hyperbalance) auszuweichen. Nicht selten findet man an solchen Kompensationen auch die obere HWS beteiligt.

Die Veränderungen in diesen Dimensionen ergeben sich aus der muskulären Entspannung und sind auf anderem Weg kaum herbeizuführen.

Was sind die Einsatzgebiete für die Myozentrik?

Eine funktionierende, beschwerdefreie habituelle Bisslage sollte man prinzipiell in Ruhe lassen bzw. beibehalten, wenn Restaurationen angefertigt werden müssen. 
Jedoch ist es von Vorteil, wenn man sich schon nicht ganz auf sie verlassen möchte, die Myozentrik zumindest vergleichsweise bei allen Maßnahmen heranzuziehen, bei denen eine Umstellung des Bisses geplant ist. Routinemäßig ist dies bei kieferorthopädischen Behandlungen der Fall, bei der orthognathen Chirurgie, bei der Anfertigung von Bissbehelfen für die CMD-Therapie, bei der Totalprothetik, gelegentlich auch bei der festsitzenden oder Teil-Prothetik mit oder ohne Implantation. In diesen Fällen kann das Wissen darum, wie die Muskulatur des Patienten im entspannten Zustand dessen Unterkiefer einstellen würde, sicherlich nicht schaden und im Gegenteil vor unliebsamen Überraschungen schützen!

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