Kürzlich erreichte mich die Anfrage einer Studentin. Sie wollte in ihrer Diplomarbeit die Myozentrik mit der Gnathologie vergleichen und suchte Literatur, vor allem auch zu den biomechanischen Unterschieden.
Tatsächlich eine interessante Fragestellung, allerdings auch eine nicht ganz korrekte, denn die Vorstellung einer Biomechanik im Gebiss ist eine gnathologische Vorstellung, die nicht zur Myozentrik passt. Sie impliziert die Führung der Unterkieferbewegung, wie wir sie aus der Mechanik kennen, aber stattfindend in einem biologischen Wesen. Man hat also bestimmte feste Elemente, Gelenke und Muskelzüge, und daraus ergeben sich mechanisch quasi berechenbare Bewegungen.
Bei der Myozentrik gehen wir von einer ganz anderen Gedankenwelt aus. Man stelle sich vor, man sitzt auf einem Stuhl, hat den Arm ausgestreckt und möchte nun die Zeigefingerspitze zur Nasenspitze führen. Noch bevor sie begonnen wird, besteht also eine Vorstellung dessen, was durch die Bewegung erreicht werden soll. Wie wird dieses Ziel nun erreicht werden, mechanisch berechenbar, oder auf anderem Weg?
Steht ein Spiegel vor uns, so können wir mit den Augen kontrollieren, wo sich unsere Zeigefingerspitze in Relation zur Nasenspitze befindet. Wir könnten also einfach mit der Bewegung beginnen, sehen, wohin sie läuft und sie dann nach Bedarf so lange korrigieren, bis die Fingerspitze auf der Nasenspitze liegt. Wäre das dann immer noch Biomechanik?
Aber wir brauchen gar keinen Spiegel. Auch mit geschlossenen Augen haben wir eine genaue Vorstellung davon, wo im Raum sich unsere Fingerspitze befindet und wo unsere Nasenspitze. Auch ohne Sichtkontrolle können wir eine Bewegung starten, die direkt mitten ins Ziel treffen wird, denn diese räumliche Vorstellung ist sehr präzise. Sie entsteht durch diverse Gefühlseindrücke, durch das Gedächtnis an visuelle Eindrücke und eine Menge weiterer sensorischer Details, welche sich zu einem dreidimensionalen Gesamtbild zusammensetzen, durch das wir wissen, wo sich gerade jedes Körperteil befindet, auch in Relation zu den übrigen. Man nennt diese Fähigkeit zur räumlichen Vorstellung „Propriozeption“.
Penfield hat versucht, dem auf den Grund zu gehen, indem er untersuchte, welche Punkte im Gehirn sensorisch und motorisch mit welchen Körperarealen korrespondieren. Daraus entwickelte er sein „Homunkulus“, ein Menschlein, bei dem unterschiedliche Körperregionen je nach dem Platz, der ihnen in der Gehirnrinde gewidmet ist, unterschiedlich groß dargestellt sind. Im Natural History Museum in London findet man entsprechende 3-D Darstellungen (Bild links).
Auffällig ist hier die riesige Darstellung der Hände und der oralen Region. Das kommt daher, dass diese Körperregionen eine besonders hohe Innervationsdichte aufweisen und spiegelt sich beim motorischen Homunkulus in entsprechend vielen kleinen motorischen Einheiten, die eine feine motorische Steuerung ermöglichen, und zusammen mit der sensorischen Dichte eine besonders große propriozeptive Präzision.
Warum sollte dies für die orale Region von Vorteil sein?
Natürlich ist ein feiner Geschmackssinn wichtig, um sich nicht zu vergiften und besonders die Lippen und Schneidezähne weisen auch einen sehr feinen Tastsinn auf. Jedoch bedarf es gerade hier auch einer extrem präzisen motorischen Steuerung, denn es geht nicht nur um Zerkleinerung von Nahrung, sondern auch um das Fügen von komplex geformten und steinharten Zähnen in unmittelbarem Kontakt, ohne jeden Puffer. Und beim Menschen wachsen Zähne nicht nach, müssen daher so gut als nur möglich vor unnützem Verschleiß geschützt werden.
Bei der Myozentrik gehen wir daher davon aus, dass eine propriozeptiv gesteuerte Bewegung in den Biss führt und nicht eine biomechanische. Man kann die Propriozeption eines anderen Menschen nicht spüren, daher kann man auch seinen Unterkiefer kaum mit der Hand in eine Position führen, welche für seine Muskulatur und Propriozeption besonders angenehm ist. Auch kann man nicht mit den Händen spüren, ob der Biss eines Anderen verschoben ist. Mit der Hand kann man nur Widerstände ertasten und dafür muss man die Kiefergelenke mehr oder weniger stark in die eine oder andere Richtung komprimieren. Aus der Physiologie und der Osteopathie wissen wir jedoch, dass komprimierte Gelenke keine gesunden Gelenke sind.
Welche klinischen Unterschiede ergeben sich daraus?
Eine Myozentrikschiene sollte ein möglichst eindeutig definiertes Ziel für die Propriozeption enthalten.
Die Verzahnung an diesem Zielpunkt sollte an einem Ort liegen, der den Zugvektoren der Elevatoren entspricht und möglichst nicht verschoben ist.
Die Ruhe-Schwebe, in die der Unterkiefer nach 1-2 mm interokklusaler Distanz fällt, sollte von den beteiligten Muskeln möglichst nahe ihrer physiologischen Ruhelänge getragen sein, sodass sie bestmöglich entspannen können.
In Deutschland wird die Myozentrik momentan auch noch von etlichen „konvertierten“ Gnathologen betrieben und funktioniert in der Regel zwar, aber nicht immer ist dabei sichergestellt, dass die grundlegenden Unterschiede zur Gnathologie, die hier noch immer die dominante Sichtweise darstellt, auch tatsächlich verstanden, erklärt, oder in Veröffentlichungen korrekt beschrieben werden.