Physio-Logic Articulation – was ist anders?


Die Antwort in aller Kürze: Fast alles!

Das ist es auch, was so oft missverstanden wird. Es geht hier nicht um eine unter vielen kleinen Modifikationen, sondern darum, die Modelleinstellung im Artikulator komplett neu zu überdenken.

Artikulatoren gibt es schon, seit man Techniken erfand, die direkt im Mund des Patienten nicht einsetzbar waren, z. B. dem Vulkanisieren von Prothesenbasen, was zu den ersten belastbaren und somit kaufähigen Zahnprothesen führte. Zuvor war eine solche Prothese reine Zierde für die, die es sich leisten konnten. Die Temperaturen, die beim Vulkanisieren erforderlich sind, konnte man nur Modellen von Kieferkämmen zumuten, nicht aber denen im Mund von Patienten, und diese Modelle musste man irgendwie ähnlich zueinander orientieren, wie auch die Kieferkämme im Mund des Patienten zueinander standen – und dafür bedurfte es eines Artikulators.

Bonwill aus Katalog


Die Abbildung aus einem alten Dentalkatalog zeigt den Bonwill-Artikulator, mit dem auch mein Großvater noch arbeitete. Aber neben dem Preis hat sich inzwischen auch die Vorgehensweise grundlegend gewandelt: Damals stellte man das untere Modell zuerst in den Artikulator, mit der Kauebene parallel zur Tischebene und zum Bonwill’schen Dreieck ausgerichtet. Mit dem Bissregistrat wurde dann das obere Modell dazu artikuliert.

Bald aber fand Christensen heraus, dass horizontale Bewegungen, z. B. beim Vorschub des Unterkiefers, so nicht richtig dargestellt werden. Gysi benannte daher später das Phänomen, dass der Unterkiefer nicht wie eine Schublade protrudiert, sondern dabei um seine Querachse rotiert, nach Christensen. Der Grund dafür ist, dass die Kiefergelenke des Menschen bei der Translation aufgrund der Kondylbahnneigung auch detrudieren. Und so geriet der Fokus immer mehr auf die Kiefergelenke und man versuchte, deren Eigenschaften im Artikulator so genau wie möglich nachzuahmen.

Es war McCollum, ein Professor im Süden Kaliforniens, der in den 40-er Jahren eine neue Systematik für die Übertragung von Modellen in einen Artikulator entwickelte. Er postulierte, die Kiefergelenke müssen, wie ein Artikulator auch, eine Rotationsachse aufweisen und diese Achse, die „Terminal Hinge Axis“ (Terminale Scharnierachse) nutzte er als Referenz für die Modelleinstellung. Das Problem dabei war, dass Menschen ihren Unterkiefer nicht um eine solche Achse bewegen. Wie Posselt später in seinem Buch schrieb, öffnen wir unseren Mund primär mithilfe der supra- und infahyoidalen Muskeln und schließen ihn so, dass wir die zentrische Interkuspidation exakt treffen. Achsen spielen dabei keine Rolle.

Charles Stuart lr

Dr. Charles Stuart

Nachdem McCollum einen Gehirnschlag erlitten hatte, übernahm sein enger Vertrauter und Schüler Stuart die Leitung der 24-köpfigen Gruppe, die sich inzwischen entwickelt hatte. Ein Mitglied, Harvey Stallard, hatte einen Namen für die Sichtweise der Funktion gefunden, der dieses Verfahren entsprang: „Gnathology“. McCollum hatte 1955 zusammen mit Stuart ein Buch veröffentlicht, das diese Namensgebung aufgriff: „Gnathology - A Research Report“. Darin sind diese Sichtweisen samt sämtlicher Prämissen, auf denen die Gnathologie beruht, detailliert beschrieben. Z. B. ging man davon aus, dass es die Kiefergelenke seien, welche die Bewegungen des Unterkiefers führen, wie das auch im Artikulator der Fall ist. Arne Lauritzen, trug diese neue Methode ab den späten 60-er Jahren nach Europa und so formte sich auch hier eine zunächst noch überschaubare Gruppe von Anhängern, der mein Vater schon frühzeitig angehörte.

Ich war schon in meiner frühen Jugend mit der Erstellung von entsprechendem Bildmaterial betraut und erinnere mich noch gut an den ziemlich häufigen Besuch von amerikanischen Berühmtheiten der zahnmedizinischen Welt im Haus meiner Eltern, wobei die fachlichen Diskussionen damals meine Auffassungsgabe natürlich überstiegen. Gleichwohl durfte ich in der Praxis meines Vaters nicht nur Bilder von den Abläufen machen, sondern auch bei der Ermittlung dieser terminalen Scharnierachse helfen, die damals bei jedem Patienten individuell bestimmt und mit einem kleinen Punkt tätowiert wurde. Der Gesichtsbogen wurde dann auf diese Punkte justiert, während auf seiner Bissgabel Impressionen der oberen Zahnreihe in angewärmter Kerrmasse entstanden, in die man das obere Modell später zur Montage im Artikulator einsetzte. Dieses Auffinden der terminalen Scharnierachse war ein mühseliges Unterfangen, bei dem man Nadeln am Gesichtsbogen so lange verstellte, bis sie bei Öffnungs- und Schließbewegungen keinen Kreisbahnen mehr beschrieben, sondern um sich selbst rotierten. Der Patient lag dabei auf dem Rücken und mein Vater führte die Bewegungen seines Unterkiefers mit der Hand, wobei er das Kinn mehr oder weniger stark nach retral drückte, um jedwede Translation in den Kiefergelenken zu unterbinden. Selbst Lauritzen schreibt in seinem Buch, dass eine solche Bewegung dem Patienten zwar möglich sei, aber nicht natürlich vorkomme und daher eingeübt, oder vom Zahnarzt manipuliert werden müsse (Atlas of Occlusal Analysis, S. 26). Und so wurde das obere Modell in einer Position im Artikulator eingestellt, wo es zum unteren Zahnbogen passte, wenn dieser sich in seiner retralen Grenzstellung befand, in der eine terminale Scharnierachse auffindbar war.

Die Firma Whip-Mix hatte nicht nur hochpräzise Gussverfahren und vakuumgerührte Superhartgipse entwickelt, sondern auch die Wichtigkeit erkannt, Studenten frühzeitig in Berührung mit ihren Produkten zu bringen. Jedoch war diese Form der Modellübertragung zu kompliziert für das Studium und so bat man Stuart, einen vereinfachten Artikulator zu entwerfen, und dafür auch die Gesichtsbogenübertragung zu vereinfachen. Stuart begann zunächst, sich hierfür mittelwertig am Vorderrand des Tragus des Patienten zu orientieren, jedoch übernahm man später das von Dragan patentierte Verfahren, bei dem einfach zwei Formteile des Gesichtsbogens in die externen Gehörgänge des Patienten eingelegt wurde. Der Quick-Mount Gesichtsbogen und die 6800-er Artikulatorserie eroberten bald die zahnärztliche Welt und brachten der Gnathologie einen gewaltigen Aufschwung. Mein Vater hatte eine eigene Firma für den Import und Vertrieb von Whip-Mix Produkten im deutschsprachigen Raum gegründet, die Firma Frankonia Dental, die nach sprunghaftem Wachstum auch bald ihre Blütezeit erleben sollte.

Die Anwendung von Mittelwertgesichtsbögen ist heute derart ubiquitär, dass kaum noch jemand danach fragt, wie es dazu gekommen ist und war die ursprüngliche Zielsetzung dabei war. Man nennt diese Übertragung „schädelbezüglich“, hat jedoch vergessen, dass sie ursprünglich achsenbezüglich war, da die Bestimmung der terminalen Scharnierachse samt Manipulation des Unterkiefers entfällt, und inzwischen tatsächlich ohrenbezüglich ist. Man ist inzwischen weitgehend davon abgerückt, den Unterkiefer des Patienten auch bei der Bissnahme in die Retrallage zu manipulieren, sondern führt diese Bissregistrate zumeist nach ganz anderen Gesichtspunkten durch. Dennoch überträgt man das obere Modell nach wie vor zur terminalen Scharnierachse, also mit Respekt zur Retrallage des Unterkiefers, stellt diesen dann aber anders dazu.

Bei der Physio-Logischen Artikulation beschreiten wir einen völlig anderen Weg, bei dem es darum geht, die Bewegungen zwischen antagonistischen Kauflächen unmittelbar mit denen im Artikulator gleichzuschalten, ohne den Umweg über die Kiefergelenke  zu gehen, um eine möglichst störungsfreie Okklusion im Artikulator gestalten zu können.

Bei der Entwicklung der Physio-Logischen Artikulation wollte ich diese Fehler ausschließen und gleichzeitig Abstand von den anhaltenden Debatten um die Funktion/Dysfunktion des menschlichen Kausystems gewinnen. Schließlich stellen wir Modelle im Artikulator ein, um dort Okklusalflächen zu gestalten, nicht Gelenkflächen. Die Zuhilfenahme von Grenzbewegungen der Kiefergelenke war schließlich nur ein Versuch, um die Bewegungen zwischen den Elementen von antagonistischen Kauflächen im Artikulator zu simulieren, kein Selbstzweck. Wir haben Artikulatoren geschaffen, um den Menschen zu simulieren und glauben inzwischen, der Mensch funktioniere tatsächlich so, wie diese Artikulationen. Ich wollte hingegen eine Artikulationstechnik, welche es dem Menschen gestattet, wie ein Mensch zu funktionieren. Daher sollte es hier um Bewegungen gehen, die der Patient selbst ausführt und nicht um solche, die von außen an ihm manupuliert werden. Dabei entfernen wir uns sehr bewusst sehr weit von gnathologischen Gepflogenheiten:

  1. Referenzebene: Es gibt nur eine Referenz, zu der wir im Menschen und im Artikulator gleichermaßen messen können, die Okklusalebene. Extraorale Referenzpunkte haben wir nur im Menschen, aber nicht an den Modellen, und haben somit keine Möglichkeit, um die Gleichschaltung zwischen Patient und Artikulator gesichert zu überprüfen.
  2. HIP-Mount: Ein Positionierungsgerät zur kontrollierten Einstellung des oberen Modells zur Artikulatorachse, um den Schließwinkel zur Okklusalebene im Artikulator wiederzugeben, welcher der natürlichen habituellen Öffnung- und Schließbewegung des Patienten entspricht. Dabei kann mit Hilfe des Vector-Analyzers jeder gewünschte Schließwinkel eingestellt werden, wobei jedoch die Modellanordnung im Artikulator dann erheblich von der abweichen kann, die mit einem Gesichtsbogen übertragen wird. Prinzipiell wird der Schließwinkel spitzer (kleiner), je tiefer die Modelle im Artikulator stehen und je greinger der sagittale Abstand von der Artikulatorachse. Entsprechend wird dieser Winkel stumpfer (größer), je höger die Modelle im Artikulator stehen und je größer ihr sagittaler Abstand zur Artikulatorachse ist.
  3. Bewegungsrichtungen: Wichtig ist die Ausrichtung der Modelle im Artikulator dergestalt, dass dort die Bewegungsrichtungen übereinstimmend mit denen im Menschen dargestellt werden. Was im Menschen anterior ist, lässt sich nicht aus einem Lot auf die Verbindungslinie zwischen den externen Gehörgängen ableiten, nach denen wir einen Gesichtsbogen ausrichten. Die Bewegungsrichtungen anterior/posterior, superior/inferior, sowie links/rechts müssen vielmehr unmittelbar zwischen den Zahnreihen der Modelle und im Patienten gleichgeschaltet werden.
  4. Kondylbahnneigung: Mit der Einstellung der horizontalen Kondlybahnneigung im Artikulator suchen wir nicht länger, Gelenkbahnneigungen des Patienten zu simulieren. Vielmehr bestimmen wir damit Disklusionswinkel im Artikulator mit Respekt zur Okklusionsebene bei der uni- oder bilateralen Translation von Artikulatorkondylen. Steile Führungsflächen sollen gelenkfern auf den Front- und Eckzähnen liegen, je näher eine Okklusalfläche am Gelenk liegt, desto flacher soll die Neigung ihrer Höckerabhänge sein. Die Kondylbahnneigung wirkt sich primär auf den Disklusionswinkel im Bereich der posterioren Zähne aus. Der tatsächliche Disklusionswinkel ist jedoch auch noch von anderen Faktoren abhängig, z. B. einer Führung durch Kontakt der Schneidezähne oder am Stützstift des Artikulators. So kann die Kondylbahnneigung auch auf 0° eingestellt sein und trotzdem entsteht ein Disklusionswinkel zwischen den posterioren Zähnen bei der Translation.
  5. Bennettwinkel: Die Einstellung dieses Winkels im Artikulator beeinflusst den Transversalversatz zwischen Artikulator-Ober- und Unterteil. Je größer der eingestellte Bennettwinkel, desto breiter die Darstellung des okklusalen Kompass an einem beliebigen Zahn bei der Seitbewegung im Artikulator. Ein zu schmaler okklusaler Kompass schafft bei der Okklusalgestaltung Kollisionspunkte, die später im Mund stören, während ein zu breiter okklusaler Kompass im Artikulator zu einer Okklusalgestaltung führt, bei der im Mund mehr exzentrische Freiräume vorhanden sind, als unbedingt erforderlich, was Störkontakte unwahrscheinlich macht. Wichtig für die Kauflächengestaltung ist lediglich die zentriknahe Bewegung (progressive bzw. Immediate sideshift) die im Menschen oft deutlich breiter ausfällt, als im Artikulator einstellbar ist.

Diesem Thema ist ein ITMR Online-Kurs gewidmet (8 Fortbildungspunkte für Zahnärzte).

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