Sind wir nicht alle schief?

Immer wieder höre ich das:

„Ich war schon immer schief“! Oder „ich habe eine Skoliose, die ist angeboren“!

Und wie komme ich als Zahnarzt überhaupt dazu, mich um die Körperhaltung zu kümmern?

Ein wenig hängt es davon ab, wie man die Welt sieht. Entweder besteht sie aus lauter Einzelteilen, die kaum etwas miteinander zu tun haben, oder es geht darum, die Zusammenhänge zwischen diesen Dingen verstehen zu lernen. Bei mir kommt auch noch eine persönliche Erfahrung hinzu:

Im Alter von 15 Jahren durchfuhr mich aus heiterem Himmel ein Schmerz, der mir bis ins Bein hinunter schoss, als ich vom Frühstück in der engen Plicht des Segelbootes meines Vaters aufstehen wollte. Der Beginn einer Odyssee, in deren Verlauf ich sicher mehr als 50 Therapeuten kennenlernen sollte. Jeder von ihnen wusste es ganz genau, war ein Experte in seinem Feld, etliche sogar mit überregionalem Ruf. Es herrschte kein Mangel an Selbstbewusstsein unter diesen Leuten, nur ich fand mich jeden Abend zuhause wieder, nach wie vor mit meinen Schmerzen.

Im Alter von 30 Jahren verschwand der Spuk fast so schnell, wie er gekommen war und zwar durch einen Manualtherapeuten aus den USA, der meine Körperhaltung analysierte – und deren Sinn verstand. Mein Körper mühte sich sehr ineffizient damit ab, der Schwerkraft zu widerstehen, weil mich verspannte Bauchmuskeln ständig vornüber zogen. Davon wusste ich nichts und doch musste dort die Therapie beginnen, nicht am Ort der Schmerzen!

In den darauf folgenden Jahren veranstaltete ich mit diesem Herren, Paul St. John, der eine Therapierichtung begründet hatte, die er „Neuromuscular Therapy“ nannte, gemeinsame Seminare, in deren Verlauf mir Zusammenhänge in der Haltungskette des Menschen immer klarer wurden. Und diese machen nicht in der Halwirbelsäule Halt, sondern beziehen die Kieferhaltung und den Biss sehr wohl mit ein.

Es stimmt, die meisten Menschen in unseren Breiten halten sich schief. Es stimmt aber auch, dass wir unglaublich viele muskulo-skelettale Probleme in der Bevölkerung haben und es nur wenige Menschen gibt, die im Lauf ihres Lebens keine Bekanntschaft mit Rückenschmerzen machen!

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Das Skelett weicht aus der optimalen gewichtstragenden Form ab, wie am Schulterschiefstand zu erkennen ist.

Es gibt eine ideale Anordnung der Knochen im Skelett, bei der diese das Gewicht es Körpers optimal tragen und Muskeln nur noch gebraucht werden, um das Ganze zu stabilisieren, zumindest, solange wir aufrecht stehen. Je weiter nun das Skelett aus dieser idealen Anordnung abweicht, desto weniger können wir unsere stabilen Knochen einsetzen und desto mehr müssen Muskeln dafür herhalten. Z. B. können wir lange mit geraden Beinen stehen, aber je mehr wir die Knie beugen, desto anstrengender wird es. Nicht anders ist es, wenn wir nach vorn gebeugt stehen wollen etc. Es kommt jeweils relativ schnell zur Überlastung einzelner Muskelpartien, die normalerweise nicht annähernd in diesem Umfang arbeiten müssen –  nur um stehen zu bleiben. Momentan sind wir uns dieser Abweichungen noch bewusst – wir haben sie ja gerade absichtlich erzeugt, um zu experiementieren. Jedoch kann es auch unbewusst dazu kommen und dann ist die Auswirkung die gleiche: bestimmte Muskeln beginnen zu schmerzen, aber jetzt ist unklar, wieso!

Eine vernünftige Haltungsanalyse kann dies aufdecken und dokumentieren. Mit ihr kann auch der Erfolg einer Haltungstherapie nachvollzogen werden. Fehlhaltungsmuster bleiben zwar oft relativ hartnäckig und erstaunlich konstant erhalten, wenn sie erst einmal entstanden sind, aber das Schöne ist, dass ein Therapeut, der sich auf die Behandlung der Weichgewebe versteht, solche Muster auch relativ schnell wieder auflösen kann, solange er in der Lage ist, sie durch neue, effizientere Muster zu ersetzen.

Es hat also keinen Sinn, Schiefhaltungen einfach als „normal“ oder „unwichtig“ abzutun, denn sie sind der äußere Ausdruck chronischer Muskelverspannungen und geben demjenigen, der Willens ist, sich damit zu beschäftigen, wichtige Hinweise auf mögliche Problemquellen, auch wenn sie nicht an der Stelle liegen, wo der Patient Schmerzen verspürt. 

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Das linke Bild wurde 2007 aufgenommen, das rechte 2008. Es zeigt sich eine erstaunliche Konstanz im Haltungsmuster. Natürlich entsteht durch die Kleidung ein Unsicherheitsfaktor, denn sie verdeckt die direkten anatomischen Referenzen und doch ähneln sich die Haltungsmuster unverkennbar. Erst eine erfolgreiche Haltungstherapie würde zu sichtbaren Unterschieden führen – oder vielleicht auch ein Unfall zu einer erkennbaren Verschlechterung.

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