Wir haben uns einmal die Seiten genauer angesehen, die bei einer Googlesuche zum Thema „CMD“ im Dezember 2020 ganz oben standen:
- aztsuche.de, die Seite einer Firma mit Eintrag im Handelsregister Düsseldorf.
- netdoktor.de, die Seite einer Firma mit Eintrag im Handelsregister München.
- wikipedia.org, eine Seite der Wikimedia Foundation Inc. in San Francisco (USA).
- gzfa.de, die Seite einer Firma mit Eintrag im Handelsregister München.
- Eine Zahnarztpraxis in Lübeck.
- Eine Zahnarztpraxis in Herne.
- Eine Zahnarztpraxis in Mainz.
- Eine Zahnarztpraxis in Hannover.
- Eine Zahnarztpraxis in Ostbevern.
Interessant mag unter diesem Aspekt sein, dass schon mein Großvater ein paar Karteikarten mit dem Kürzel „HY“ markiert hatte, was für „hysterisch“ stand, also Patienten, mit denen er möglichst wenig zu tun haben wollte. Auch in den 50er Jahren kannte man schon „Okklusionsneurotiker“, wie mein Vater sie später einmal nannte, die damals allerdings extrem selten waren.
Heute sucht man also genau diejenigen, die man früher nach Möglichkeit vermeiden wollte und es ist interessant, dass es sie inzwischen in solchen Mengen gibt, dass es sich lohnt, tief in die Trickkiste zu greifen, um von ihnen gefunden zu werden. Die obersten 9 Plätze bei den Suchergebnissen werden von Webseiten belegt, die zum Teil oder ganz kommerziellen Interessen dienen, lediglich bei Wikipedia darf man eine uneigennützige Motivation zur Information unterstellen. Firmen geben sich gerne Namen, die einen gemeinnützigen oder universitären Charakter nahelegen, aber natürlich steht bei jeder Handelsfirma ein Geschäftsmodell im Hintergrund, sei es, dass sie Zahnärzte gegen Gebühr in Behandlerlisten führen, ein System für Schienen verkaufen, oder was auch immer. Will ein normaler Zahnarzt an solch prominenter Position auf seine Dienste aufmerksam machen, so muss er einen Experten für „SEO“ (Suchmaschinenoptimierung) anheuern. Wenn der sein Fach versteht, wird er die für Suchmaschinen relevanten Aspekte einer Webseite so optimieren, dass ihr „Ranking“ bei Google steigt und sie schließlich bei einer Suche nach bestimmten Begriffen, die Betroffene besonders häufig eingeben, ganz oben gelistet wird. Natürlich hat das dann nicht immer auch etwas mit der fachlichen Expertise desjenigen zu tun, der den SEO-Spezialisten beauftragt hat.
Als Nächstes interessiert, wie diese Google-optimierten Webseiten die CMD präsentieren, wenn es darum geht, was das eigentlich ist. Dabei entspricht die Nummerierung wieder der obigen:
- Schmerzen in den Kaumuskeln/Kiefern, Probleme bei der Mundöffnung, Knacken/Reibung oder Schmerzen im Kiefergelenk, Kopfschmerzen/Migräne, Verspannungen im Nacken und Rücken, Ohrenschmerzen, Tinnitus (Ohrgeräusche)/Schwindelgefühle, Zähneknirschen, Gesichtsschmerzen, Bruxismus (Zähnepressen), Schlafstörungen, Schnarchen.
- Zahnunfälle, Zahnverlust, zu hohe Füllungen oder Kronen, unbrauchbarer Zahnersatz, Zahnfehlstellungen, Zahnverschiebungen oder Zahnwanderungen, Kieferfehlstellungen, Störungen der Zahnkontakte, ungünstiges Schädelwachstum, hormonelle Störungen, emotionaler Stress, psychische Probleme (Angst, Depressivität), ungünstige Verhaltensweisen, Grunderkrankungen wie Rheuma, Arthrose und Arthritis
führen zu Kaumuskelverspannungen, welche eine Verlagerung des Diskus im Kiefergelenk verursachen und Schmerzen, verringerter Mundöffnung, Ohrenschmerzen, Tinnitus, Schwindel, Kopfschmerzen oder Nackenverspannungen nach sich ziehen. - Mit einer Verbreitung von etwa 8% unter der Bevölkerung, davon 3% behandlungsbedürftig, geht man bei Wikipedia von einer meist unklaren Pathogenese aus, die auf prädisponierenden Faktoren aufbaut. Unter den 20 genannten Faktoren stellt man interessanterweise „Gene“ und „Hormone“ an die Stelle 1 und 2, während die hintersten Plätze 17-20 der Reihe nach von Zahnfehlstellungen, Zahnextraktionen, Vorkontakte durch Kronen und Prothesen und kieferorthopädische Behandlungen belegt sind. Dies entspricht den Doktrienen der "evidenzbasierten Wissenschaft", welche seit einigen Dekaden dieses Feld dominiert und, das sei nebenbei angemerkt, an der Studien durch kieferorthopädische Abteilungen an Universitäten maßgeblich beteiligt sind.
- Hier wird eine okklusale Dysfunktion beschrieben, bei der ein gestörtes Zusammenspiel zwischen oberen und unteren Zähnen zu einer fehlerhaften Bisslage führt, die wiederum die Kiefergelenke in eine unphysiologische Lage bringt. Auf Dauer führt dies zu Schmerzen an Zähnen, Kiefergelenken, im Gesicht, Kopf oder Nacken.
- - 9. Die Seiten der zahnärztlichen Kollegen möchte ich zusammengefasst betrachten. Als ursächlich für die CMD erscheinen hier folgende Faktoren in der angegebenen Anzahl der fünf Zahnarztpraxen:
- Bruxismus (Zähneknirschen): 4
- Fehlbiss (Okklusion): 5
- Stress: 5
- Trauma: 4
- Kiefergelenke: 4
- Haltungsprobleme/Wechselspiele mit der Beckenstellung: 3
- Zahnverlust: 1
- Neurologische Störungen: 1
Interessant ist also die Tatsache, dass praktizierende Zahnärzte in ihrer Auffassung offenbar im Widerspruch zu den Dogmen der Universitäten stehen, welche bissbezogene Ursachen als eher irrelevant bezeichnen. Erstaunlich ist, dass sich gerade in wissenschaftlichen Kreisen die genetische Ursachen für CMD auf einem vorrangigen Platz behaupten. Das Genom des Menschen ist inzwischen erschlossen und nie wurde ein „CMD-Gen“ gefunden. Auch fehlt der Darstellung Plausibilität, welcher evolutionäre Vorteil zur Verbreitung dieses Gens hätte führen sollen, sodass die wachsende Verbreitung der CMD vor allem in den letzten 30 Jahren dadurch erklärbar wäre. Es steht zu befürchten, dass es sich hier um reine Spekulation handelt und man auch auf der Seite der Wissenschaft noch immer keine tragfähige Erklärung für die CMD hat finden können!
Beim Stress als Auslöser wird vorrangig an das Zähneknirschen gedacht, das man gerne als mit dem Zähnepressen als identisch ansieht, obwohl es sich eigentlich dabei um grundlegend verschiedene Parafunktionen handelt.
Als Betroffener, speziell, wenn man schon mehrere erfolglose Behandlungsversuche hinter sich hat, muss man sich daher im Klaren sein, dass die CMD in der Regel keine klare und exakt umschriebene Diagnose darstellt, die zu einheitlichen und weithin bewährten Formen der Therapie führt, wie dies z. B. bei einer Blinddarmentzündung der Fall sein mag. Denn ebenso, wie die Ursachen der CMD völlig unterschiedlich bewertet werden, ist dies bei ihrem Erscheinungsbild und den indizierten therapeutischen Maßnahmen gegeben.
In meiner Familie konnten wir zu Lebzeiten meines Vaters und Großvaters weit genug zurückblicken, um uns einig zu sein, dass sich die CMD erst in den 70er Jahren zu einem nennenswerten Problem entwickelt hat, das damals noch überschaubar war. Inzwischen ist sie jedoch zu ganz anderen Größenordnungen herangewachsen, sodass sich praktisch jeder Zahnarzt damit konfrontiert sieht, obwohl er in seiner universitären Ausbildung kaum etwas dazu vermittelt bekommen hat.
Ein weithin bekannter Ausspruch Einsteins besagt, dass man ein Problem niemals mit derselben Denkweise lösen kann, unter der es entstanden ist. Die Denkweise, welche in den 70er Jahren (in den USA schon einige Jahre zuvor) dominierte, ist die der Gnathologie, welche bei der Betrachtung der Kieferbewegung den Fokus auf die Kiefergelenke legt. Diese galten ab dieser Zeit als die Führungselemente für die Kieferbewegung, während Muskeln lediglich den Antrieb dafür lieferten. Den Kiefergelenken sprach man außerdem eine lebenslange Konstanz zu, die es gestattete, sie zur Referenz für die Bisslangenbestimmung zu machen. Damit dies möglich war, musste man eine Bewegungsachse für die Kiefergelenke bestimmen, wofür der Zahnarzt allerdings seinen Patienten den Unterkiefer aus der gewachsenen Zuordnung zum Oberkiefer schieben musste. Seither ist es üblich, dass der Zahnarzt bei der Bissnahme, also in dem Moment, wo die Zuordnung der unteren Zahnreihe zur oberen erfolgt, seinem Patienten den Unterkiefer mit der Hand führt und dabei mehr oder weniger stark verschiebt. Solche Bissnahmen erfolgen für die kieferorthopädische Behandlungsplanung ebenso, wie zur Durchführung prothetischer Arbeiten am Gebiss.
Es ist also seit den 70er Jahren nicht mehr das Ziel, eine gewachsene Bisslage möglichst unverändert beizubehalten, sondern man fühlt sich als Zahnarzt frei, diese nach Gutdünken zu verändern. Nach meiner Auffassung liegt gerade hier eine der Hauptursachen für die CMD!
Wissenschaftliche Kollegen werden sogleich randomisierte und mit Kontrollgruppen überprüfte Studien mit einer möglichst großen Probandenzahl im Sinne der Evidenzbasierung fordern, auf die ich diese Behauptung stütze. Und auf eine solche kann ich mich in der Tat nicht berufen, sondern nur auf meine über 35-jährigen Erfahrungen im Gespräch mit ungezählten CMD-Patienten, sowie die Erfahrungen meines Vaters mit solchen Patienten vor mir. Es gibt sie, die CMD-Fälle, die vereinzelt von alleine auftreten, ohne dass ein Kieferorthopäde oder Zahnarzt jemals die Hand im Spiel gehabt hätte, aber die überwältigende Mehrheit der Patienten berichten mir von Problemen, die erst infolge einer Behandlung mit einer Umstellung ihres Bisses aufgetreten seien.
Jedoch darf dies nun nicht missverstanden werden. Wie bereits angesprochen, ist die an den Universitäten gängige Meinung, dass Zahnstellung und Zahnkontakte wenig oder gar nichts mit der Funktion und Dysfunktion des Kausystems zu tun haben. Diesem Punkt wird daher bei der Ausbildung von Zahnärzten kaum noch Aufmerksamkeit gewidmet und Kollegen sehen sich daher nach ihrem Studium diesbezüglich auf sich alleine gestellt.
Was ist die CMD also meiner Auffassung nach?
Als Zahnarzt sehe ich eine CMD dann als behandlungswürdig an, wenn ich mir ziemlich sicher sein kann, dem Patienten durch eine okklusale Therapie mit seinen Beschwerden helfen zu können. Ich kann am Biss arbeiten, an den Zahnkontakten, vielleicht auch an der Zahnstellung. Nicht möglich ist mir dies jedoch mit den Genen eines Patienten, seinen Hormonen oder seiner Psyche. Daher sehe ich genetische, hormonelle und psychische Störungen als völlig unabhängig von der CMD. Zwar mögen sie sich im Kieferbereich auswirken, aber sie sind von dort aus nicht therapierbar und ihre Behandlungsmöglichkeiten liegen außerhalb meines Fachbereichs. Eine hormongestörte Patientin schicke ich daher gerne zum Endokrinologen. Hat sie aber außerdem Probleme mit ihrem Biss, so bin dafür ich als Zahnarzt zuständig.
Das Konzept, das ich auch im ITMR-Kurs „Neuromuskuläre Funktionsdiagnostik“ an Kollegen vermittle, setzt sich aus verschiedenen Stufen zusammen:
- Anamnese
- Untersuchung
- Testweiser Bissausgleich
- Bissausgleich mit Bissbehelfen
Widmet man der Anamnese genügend Aufmerksamkeit, so entsteht eine Zeitschiene, in welcher mögliche Zusammenhänge zwischen einzelnen Begebenheiten auffällig werden. Diese führen zu Vermutungen, welche dann bei der Untersuchung gezielt erhärtet oder entkräftet werden.
Die Untersuchung gliedert sich in verschiedene Phasen und schließt auch die Betrachtung des gesamten Patienten samt Auffälligkeiten in seiner Körperhaltung ein. Schmerzen entspringen bei der CMD nur selten den Hartgeweben, sondern in den allermeisten Fällen den Weichgeweben, allen voran Faszien und Muskeln. Will man bei der Muskeluntersuchung myofasziale Triggerpunkte samt ihrer Schmerzübertragung aufdecken, muss hier sehr sorgfältig und mit der entsprechenden anatomischen Kenntnis vorgegangen werden. Auch die Kiefergelenke werden untersucht, jedoch interessieren hier die gnathologischen Vermessungen in Bezug auf manipulierte Scharnierachsen und deren Verschiebewinkel kaum, sondern es geht in erster Linie um das Auffinden von Limitationen und Blockaden, sowie die Identifizierung von Entzündungen. Intraoral werden sowohl Weich- als auch Hartgewebe eingehend untersucht. Hier geht es darum, mögliche Verformungen in den Zahnbögen aufzudecken und Spurensuche zu möglichen Verschiebungen im Biss und zu Parafunktionen, also unerwünschten Funktionen wie Zähneknirschen, zu betreiben.
So ergibt sich ein Bild vermuteter Zusammenhänge, die es als Nächstes zu testen gilt. Vermutet man die Verschiebung in der Verzahnung in eine bestimmte Richtung, so sollte sich dies durch Tragen eines ausgleichenden Bisskissens auflösen. Der Patient erhält hierfür spezifische Trageanweisungen und beobachtet gleichzeitig, welche seiner Symptome wie auf das Tragen des Bisskissens reagieren.
Erst wenn diese Zusammenhänge schlüssig darstellbar sind und es obendrein Hinweise darauf gibt, dass der Patient von einem Ausgleich seines Bisses auch mit den Problemen, wegen derer er Hilfe sucht, positiv reagiert, spreche ich von einer CMD und steige in eine tatsächliche Behandlung ein.