CMD-Syndrom?

Anfragen bei den führenden Suchmaschinen sind lehrreich. Wollte vor wenigen Dekaden ein „normaler“ Zahnarzt möglichst nichts damit zu tun haben, so wird heute bares Geld dafür bezahlt, um gefunden zu werden, wenn jemand nach „CMD“ sucht. Verzeichnisse sprießen aus dem Boden, über die man CMD-Zahnärzte finden kann und sie werden von SEO-Fachinformatikern gekonnt bei Google auf die erste Seite manövriert. Wer sich dort gelistet sehen möchte, muss nur Geld an den Betreiber der Seite bezahlen und nicht, wie man vielleicht erwarten würde, irgendwelche Fähigkeiten nachweisen.  Ja, die CMD hat sich von der Ausnahme zum Geschäftsmodell entwickelt!

Ganz oben, als bezahlte Anzeige, fand sich heute eine Seite mit der Überschrift „CMD-Syndrom“. Was soll das eigentlich sein?

Ein Blick in den Duden erschließt folgende Bedeutung für das aus dem Griechischen abgeleitete Wort „Syndrom": 

Unter einem Syndrom versteht man einen Symptomenkomplex, eine Gruppe charakterischer Krankheitszeichen (Symptome) mit unbekannter oder verschiedenartiger Ursache.

Wählen wir also diese Bezeichnung, so verdeutlichen wir, dass wir nichts über die Ursache der CMD wissen. Was aber bedeutet Cranio-Mandibuläre Dysfunktion eigentlich?

Die Vorsilbe „Dys“ kommt ebenfalls aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie „schlecht“, oder „falsch“. „Funktionen“ stammt vom lateinischen „functio“, was „Aufgabe“, oder „Verrichtung“ bedeutet. Der Begriff „CMD“ bezeichnet also eine falsche, schlechte, vielleicht auch schädliche Aufgabe bzw. deren Verrichtung im Zusammenspiel zwischen dem Schädel und dem Unterkiefer. Eigentlich eine sehr treffende Bezeichnung! Wie konnte sie dermaßen verkommen, dass heute gerne behauptet wird, die Okklusion, also das Zusammenfügen der Zahnreihen (sicher eine der wichtigsten Aufgaben dieses Bewegungssegments) habe nichts mit der CMD zu tun? Dass es sich viel mehr um ein emotionales, oder hormonelles, oder um ein ererbtes Problem handle?

Die Vererbung, die Genetik, ist sowieso ein interessantes Feld, das oft für Probleme herhalten muss, die man gerne von sich weisen möchte. Stellt z. B. ein Kieferorthopäde bei einer Behandlung den Biss um (was praktisch zwangsweise geschieht, wenn die Zahnstellung verändert wird), so ist es beruhigend, wenn die Wissenschaft zeigt, dass dies in keinem Zusammenhang mit CMD-Beschwerden stehen kann, welche bei einem Patienten in der Folge aufgetreten sind. Viel mehr sind dieses Problem ererbt und wären sowieso aufgetreten, mit, oder ohne kieferorthopädische Behandlung. Es war ein Professor für Kieferorthopädie, der mir den Tipp zusteckte, einmal nachzusehen, wie viele solcher Studien auf Arbeiten in kieferorthopädischen Abteilungen an Universitäten zurückgehen!

Es gibt also einschlägige Interessen bei der CMD und dies ist nur eines von vielen möglichen Beispielen. Beunruhigend ist jedoch, dass inzwischen jeder das in den Begriff „CMD“ hineininterpretiert, was seinen Interessen am besten entgegen kommt. Schuld daran, dass die Begrifflichkeit derart verwaschen konnten, sind auch diejenigen, die eigentlich über deren medizinische Definition wachen müssten. Und hier wurde ein großer Fehler gemacht, als man den in der alles beherrschenden englischsprachigen Wissenschaftsliteratur dominanten Begriff „TMD“ eins zu eins mit dem der CMD gleichsetzte. Warum?

„TMD“ steht für „Temporo-Mandibular Disorder“. Ein Blick ins Oxford Dictionary zeigt die Wortbedeutung: 

Disorder: A state of confusion.

So perfekt, wie dies auf den gegenwärtigen Stand der CMD zutrifft, auch bei Merriam Webster finden sich  Definitionen dazu: ein konfuses Durcheinander, sowie im medizinischen Sinne ein physischer, oder mentaler Zustand, der nicht normal, oder gesund ist. Der Begriff „TMD“ war also von Anfang an, vielleicht auch bewusst, unscharf gewählt. Im Grunde vereint er alle Symptome, wie Schmerzen, jede Form von Missempfindung bis hin zu Funktionseinbußen in einem bestimmten Bereich, ohne Bezug auf deren Ursachen. TMD beschreibt also ein Syndrom. Da auch bei hormonellen und emotionalen Störungen Symptome in dieser Region auftreten können, kann man sie ruhig unter diesem Begriff mit anderen zusammenfassen - auch wenn man später seine liebe Mühe damit hat, sie wieder auseinander zu dividieren, um z. B. Ein- und Ausschlusskriterien für Probanden- und Kontrollgruppen bei Studien zu definieren. Hier möchte man ja vermeiden, dass in der „gesunden“ Kontrollgruppe ebenso viele Betroffene sind, wie in der davon zu unterscheidenden Gruppe der „Kranken“. Und Kriterien, z. B. Schmerzen in einer bestimmten Region, reichen für diese Unterscheidung einfach nicht aus! Es braucht nur unter den Gesunden z. B. eine nennenswerte Anzahl von Personen zu sein, die Funktionsstörungen aufweisen, ohne dabei Schmerzen zu haben.

Somit ist der verwirrende Stand der Wissenschaft im Bereich der CMD relativ leicht erklärbar. Zudem böte sich die Chance, diese Verwirrung zu beseitigen, wenn man, zumindest im deutschen Sprachraum, zur ursprünglichen und wesentlich exakteren Definition der CMD als Funktionsstörung zurückkehrte.

Allerdings ist es grober Unfug, wenn man für die „gesunde“ Funktion unsinnige Kriterien wählt. Ob es z. B. für einen Außenstehenden möglich ist, den Unterkiefer eines Anderen so zu manipulieren, dass dessen maximale Interkuspidation ohne Abgleiten getroffen wird, ist völlig irrelevant. Wenn ich alle, bei denen mir dies nicht gelingen will - möglichst obendrein, während ich sie „aufs Kreuz lege“ (also in der Rückenlage bringe ;-), wie uns dies unsere gnathologischen Lehrmeister eingebläut haben - als „krank“ definiere, habe ich wahrscheinlich kaum „Gesunden“ übrig, mit denen ich sie vergleichen könnte! Und es wäre gut möglich, dass dann gerade die von mir für „gesund“ Deklarierten die in Wirklichkeit die Kranken sind!

Also müssten wir Parameter für die gesunde Funktion definieren und hier bringen uns die Vorgaben aus der Gnathologie mit ihrem unverrückbaren Glauben an die Scharnierachse nicht weiter. Denn diese existiert nur, wenn wir die patienteneigene Funktion durch unsere Manipulation verfälschen. Es müssten schon Parameter sein, die zeigen, wie gut ein Mensch mit seiner eigenen Okklusion zurechtkommt, nicht mit der eines anderen, indem er dessen Unterkiefer in die Hand nimmt!

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