Faszination Kiefergelenk

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Als ich 1985 zurück nach Deutschland kam und begann, in der Praxis meines Vaters zu arbeiten, war CMD und Funktionslehre, wie man das damals gerne nannte, ein Thema für Tüftler. Obwohl die Ausbildung an den meisten Universitäten Themen wie Okklusion und Artikulatorkunde enthielt, hatte ein „normaler“ Zahnarzt kaum Lust und Zeit, um sich auf Dysfunktion zu konzentrieren. Es gab damals in diesem Bereich relativ wenige Patienten und die waren oft schwierige Leute, die einen viel Zeit kosteten. Alleine schon die zu erwartenden Versicherungsanfragen zu Privatrechnungen waren kaum der Mühe wert.

Heute ist die CMD (Cranio-Mandibuläre Dysfunktion) in aller Munde (zum Glück nicht buchstäblich). Orthopäden, Osteopathen, Heilpraktiker, Physiotherapeuten - sie alle haben dieses Thema für sich entdeckt und bauen Ausbildungsgänge dazu auf. Allein aus der zahnärztlichen Ausbildung ist es so gut wie verschwunden und bleibt einigen wenigen weiterführenden Mastership Programmen vorbehalten. Während Orthopäden, Osteopathen und Physiotherapeuten sich gegenseitig als Experten zu übertrumpfen suchen, findet sich manch ein Zahnarzt an der Seitenlinie wieder. Der Widerspruch wird vor allem dann deutlich, wenn der betroffene Patient eine eindeutige Verbindung zwischen einer Veränderung an seinem Biss und dem Beginn seiner CMD-Symptomatik erlebt hat. Aber der Biss ist ja nicht so wichtig, sagt die evidenzbasierte Wissenschaft, die die Oberaufsicht über unser Tun und Treiben übernommen zu haben scheint. Was ist da los?

MCULUM

Beverly B. McCullum gilt als der Vater der Gnathologie

In den 70-er Jahren schwappte die Welle der amerikanischen Gnathologie nach Deutschland. Der Deutsche tüftelt gerne und die komplizierten Gerätschaften für die Vermessung von Scharnierachsen und deren Bewegung entsprachen unserem Perfektionsdrang vielleicht sogar noch mehr, als dem der amerikanischen Urheber. So verfingen sich diese Techniken hier, wie kaum anderswo. In einem Land, das kaum die Größe von Texas hat, schoss gleich eine ganze Reihe von Firmen aus dem Boden, die sich gegenseitig den Rang, zunächst an feinmechanischer, später an elektronischer Perfektion streitig machten. Die Faszination mit den Kiefergelenken, deren Bewegungen sehr viel schwieriger zu erfassen sind, als die anderer Gelenke im Körper, nahm ihren Lauf. Im Mittelpunkt stand deren Scharnierachse. Schade nur, dass dieses Konzept vom Anfang an auf unhaltbaren Prämissen beruhte.

Etliche Universitäten hatten eigene Abteilungen für Okklusion aufgebaut, die einige Dekaden später ins Leere liefen. Hier hatte die evidenzbasierte Wissenschaft recht: Es war nicht die Einstellung dieses, oder jenen Bennettwinkels am Artikulator, die Machart des Gesichtsbogens, Artikulators, oder das Aufwachskonzept, das den Unterschied zwischen CMD und gesunder Funktion ausmachte. Doch zusammen mit den fragwürdigen Konzepten schüttete man in der Folge auch das Kind mit dem Bade aus und fokussierte auf psychische, hormonelle und genetische Ursachen für die CMD. Nicht wenige solcher Studien wurden von kieferorthopädischen Abteilungen an Universitäten durchgeführt und hatten ein ganz anderes Ziel: Man wollte die bei einer Kieferorthopädie routinemäßig durchgeführten Umformungen der Zahnbögen und damit einhergehende Verschiebungen im Biss keinesfalls unter den möglichen Ursachen für die CMD sehen.

So leben wir nun in einer Welt, in der nicht wirklich sicher ist, was die CMD überhaupt ist, was dazu zählt und was nicht. Sind es Symptome an einer bestimmten Stelle im Körper, oder ist „drin, was drauf steht“, eine Störung der Funktion zwischen zwei Körperteilen, dem Unterkiefer und dem Kranium? Nimmt man den Begriff beim Wort, haben hier hormonelle und psychische Störungen nichts zu suchen, wohl aber die Schnittstellen zwischen diesen beiden Körperteilen. Und derer gibt es mehrere: Nicht nur die Kiefergelenke, sondern auch die Muskulatur mit ihrer neuralen Steuerung, Bänder, Faszien, Bindegewebe und, bei einer ganz bestimmten Stellung dieser Komponenten, die Okklusion der Zähne.


Bernard Jankelson, Urheber der Myozentrik

Zum Glück kamen auch Konzepte aus den USA zu uns, die mit dieser Betrachtung bis heute stimmig sind. Jankelson bezog mit seiner neuromuskulären Funktionslehre bewusst Stellung gegen seine Kollegen weiter im Süden der Westküste, welche mit ihrer Gnathologie den Fokus auf die Kiefergelenke lenkten. Er stellte deren Prioritäten bei der Betrachtung der Funktion auf den Kopf: Nicht die Kiefergelenke bestimmen die Funktion (i.e. Bewegung) des Unterkiefers, sondern die Muskulatur, welche sowohl willentlich, als auch durch ein komplexes Netzwerk aus sensorischen und propriozeptiven Reflexen gesteuert wird. Wohin der Unterkiefer beim Zubeißen bewegt wird, ist durch die maximale Interkuspidation der Zähne in ihrer Okklusion festgelegt und meist orientiert der Körper auch die Ausgangsstellung, die so genannte Ruhe-Schwebe des Unterkiefers, an dieser Zielposition, die beim Zubeißen getroffen werden muss. Solche dauerhafte Anpassungen auch zu Zeiten, in denen die Zähne gar nicht im Kontakt stehen, nannte Jankelson „Akkommodationen“ und diese gehen häufig mit einem Verlust der physiologischen Ruhespannung in der beteiligten Muskulatur einher, d.h. es entstehen chronische muskuläre Verspannungen, die der Patient nicht bewusst erlebt, die im Laufe der Zeit aber in diversen Symptomen zum Ausdruck kommen.

Jankelson hatte nicht, wie seine Kollegen an der UCLA, mächtige universitäre Strukturen im Rücken und verpasste mit seiner Lehre auch die Neugründung vieler zahnmedizinischer Fakultäten nach dem Zweiten Weltkrieg. Dort hatte die gnathologische Lehre als moderne Entwicklung schnell und solide Fuß gefasst. Jankelsons Lehre verbreitete sich dagegen zunächst nur im Kleinen, z. B. über Kollegen, die für betroffene Familienangehörige nach Auswegen suchten. Erst 1980 kam es auf Hawaii zur Gründung des International College of Cranio-Mandibular Orthopedics (ICCMO)  und in der Folge fand die Lehre Jankelsons wenigstens an vereinzelten Universitäten in Italien und Japan Beachtung.

Jedoch wird die CMD meist als eine Kiefergelenkerkrankung verstanden. In den USA ist „TMJ“ der gebräuchlichste Ausdruck für die CMD, kurz für „Temporo-Mandibular Joint“. Man benennt also nurmehr das Gelenk als Ursache für die Erkrankung. Tatsächlich stößt man vielleicht gelegentlich bei bildgebenden Verfahren auf Auffälligkeiten und meint dann, den Grund für die Erkrankung entdeckt zu haben. In den seltensten Fällen stellen solche Auffälligkeiten aber tatsächlich die Ursache für die Erkrankung dar, oder definieren auch nur den Grad der Erkrankung. Viel mehr zeigen sie die Auswirkung jahre- und jahrzehntelanger Fehlbelastungen, die dazu führen, dass diese Gelenke in einzigartiger Weise ihre Form verändern, um zu kompensieren. Wie Mongini bereits Ende der 70-er Jahre gezeigt hat, liegt hier also keineswegs eine verlässliche Konstante vor, sondern eine Variable. Will man diese verstehen und auswerten, gilt es, nach ganz anderen Parametern Ausschau zu halten, als dies gewöhnlich der Fall ist.


Erstes von Jankelson entwickeltes TENS-Gerät aus den 60-ern. Es diente der Therapie - nicht von Gelenken, sondern von Muskeln.

Diese Erkenntnis hat fundamentale Auswirkungen auf die Diagnose und Therapie bei der CMD. Es hat keinen Sinn, ein krankes, in seiner Form vielleicht verändertes Kiefergelenk so einzustellen, wie bei einem gesunden vielleicht möglich, wenn auch fragwürdig wäre. Sinnvoller ist es, die Situation in möglichst vielen Details mit der zu einem Zeitpunkt zu vergleichen, als die Funktion noch ungestört war, um Parameter zu finden, in denen sich beide voneinander unterscheiden. Oder, eine Situation herbeizuführen, in der die Symptome verschwinden und die Funktion wieder ungestört verläuft, um diese dann möglichst störungsfrei abzugreifen und z. B. in Form eines Bissbehelfes zu testen. Oftmals gelingt das spontan nach einer Muskelentspannung mit einer speziellen transkutanen Nerv-Stimulation (TENS). Jankelson hat hierfür die Parameter optimiert und diese Form des TENS bildet ein Kernstück seiner Myozentrik.

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