Kaumuskelentspannung durch Bewegung?

J3

Der Myomonitor J3 mit roter „Turbotaste“ unten links.

Vor über 50 Jahren hat Bernard Jankelson seine Myozentrik beschrieben und die Stimulation mit TENS bildete einen integralen Bestandteil. Die Vermutung, dass es sich dabei zunächst um eine Art Fernsteuerung der körpereigenen Muskulatur handelte, um ein Bissregistrat mithilfe einer gleichmäßigen und symmetrischen Muskelkontraktion zu erzeugen, liegt nahe, denn in früheren Anleitungen hieß es, man solle für die myozentrische Bissregistrierung eine Amplitude von „Reizschwelle plus 50 %“ einsetzen und die J3 Version des für die Myozentrik entwickelten  TENS-Gerät, dem „Myomonitor“, wies einen roten „Pulse“-Schalter auf, mit dem sich dies automatisieren ließ. Über Jahre drehten sich kontroverse Diskussionen um die Frage, ob auch tiefe Muskeln, wie der M. pterygoideus lateralis durch diese TENS therapierbar seien, oder ob die Stimulation nur oberflächlich auf die Mm. masseter einwirke. Sobald Jankelson den Beweis für die neurale Vermittlung und somit für die Einbindung der tiefen Kaumuskeln erbracht hatte, warfen ihm seine Gegner vor, dass dann hierdurch der Unterkiefer protrudiert würde und somit die Myozentrik nach anterior verschobene Bisslagen erzeuge, ein Stigma, das sich in den Köpfen Unkundiger bis heute erhalten hat. 

Bei einem Besuch bei Robert Jankelson anlässlich des 50. Jubiläums der Myozentrik in Seattle zeichnete ich ein Interview mit ihm auf, in dem er jedoch betonte, dass die Intention für das TENS von Anfang an die Entspannung der Kaumuskulatur gewesen sei. Wie dem auch sei, in jüngerer Zeit hat sich die Bedeutung des TENS mehr und mehr in Richtung der vorbereitenden Entspannung und Deprogrammierung der Kaumuskulatur verlagert und hier liegt auch der Wert des Verfahrens, denn es erlaubt die Auflösung von verkrampften Kieferhaltungen, in der Diktion der Myozentrik auch „akkommodiert“ genannt. Dieser Unterschied kann in der Regel durch Manipulationen am Unterkiefer nicht gefunden werden und dadurch ergibt die myozentrische Bissregistrierung immer wieder andere Ergebnisse als konventionelle Verfahren.

Bei über 30 publizierten Studien mit weit über 200 sekundär zitierten Studien zur Effizienz und Wirkweise niederfrequent applizierter TENS-Impulse mit dem Myomonitor für die Entspannung der Kaumuskulatur, welche die Firma Myotronics, Inc., zusammengetragen hat, darf man diese Therapiemethode als gut dokumentiert bezeichnen. Tausende von Besitzern von K7-Geräten der gleichen Firma messen routinemäßig Tag für Tag die durch TENS erzielten Effekte durch den Vergleich der sogenannten „Scans 9 und 10“ elektromyografisch nach und festigen die Überzeugung, dass die prinzipielle Wirksamkeit der Niederfrequenz-TENS klinisch außer Frage steht. Man führt die erzielten Effekte auf histochemische Veränderungen im Gewebe zurück, sowie die Ausschüttung von Endorphinen, vor allem aber auf die Verbesserung der Mikrozirkulation, welche ihrerseits saure Stoffwechselendprodukte abtransportiert, sowie die zelluläre Versorgung mit Sauerstoff verbessert.

Jedoch besteht einige Verwirrung darüber, was der Mechanismus für diesen Effekt sein könnte. Immer wieder findet man die Publikation von Melzack und Wall aus dem Jahr 1965 „Pain Mechanisms: A new Theory“ zitiert. Darin beschreiben die Autoren ihre „Gate Control Theory“, nach der die Schmerzleitung an der Synapse durch deren Überflutung mit nicht schmerzhaften Signalen, die ihr wesentlich schneller über myelinisierte Fasern zugeleitet werden, blockiert werden kann. Dabei kann TENS als Quelle für solche Überflutungen genutzt werden.

Im ICCMO-Kompendium habe ich dem Thema ein Kapitel gewidmet, in dem ich dieser These eine andere gegenüberstelle. Die im Myomonitor verwendete Stimulationsfrequenz von 0,75 Hz ist zu langsam, um für einen ausgeprägten analgetischen Effekt auf dem Wege der Blockade des „Gates“ infrage zu kommen. Diese langsame Stimulation mit Einzelimpulsen mit relativ hoher Impulsbreite (500 µSek) bewirkt nämlich noch etwas anderes, das wir bei konventionellen TENS-Applikationen in der Schmerztherapie nicht sehen: Bewegung. Die lockere und ungezwungene Bewegung regt die Mikrozirkulation im Muskel an, sie bildet den natürlichen Mechanismus, mit dem Muskeln sich umso besser mit Nährstoffen versorgen, je mehr sie leisten müssen. Dies bleibt jedoch auf physiologische Muskelaktivitäten beschränkt, bei denen auf Phasen der Anspannung solche der Entspannung folgen. Setzt bei Fehlhaltungen eine Kontraktur ein, die keine Entspannungsphasen mehr birgt, so versorgt sich der Muskel nicht besser, sondern er stranguliert sich quasi selbst!

Von Muskelverspannungen geplagte Lumbagopatienten kennen das: Zwei Zustände gilt es zu vermeiden, still Stehen und stark Belasten. Dazwischen liegt die lockere Bewegung, die noch am ehesten Linderung bringt. Wieso sollte das für die Kaumuskulatur nur mittels TENS möglich sein? Und so haben wir in letzter Zeit den Effekt des lockeren Kauens auf einem FreeBite air medium elektromyografisch untersucht. Hier möchte ich den ersten Fall zeigen, eine Kollegin, die im Mai 2018 am ITMR Myozentrik-Kurs teilnahm. Sie litt unter chronischen Beschwerden nach einer kieferorthopädischen Behandlung und es war ihr auf diversen Fortbildungen bisher nicht gelungen, irgendwelche schlüssigen Antworten für ihr Problem zu finden. Ich war der Kollegin zuvor nie begegnet und die Messungen, die für alle Teilnehmer sichtbar projiziert wurden, waren für mich ebenso spannend, wie für die Zuschauer. Zunächst galt es mit einem Scan 9 habituelle Ruhewerte zu etablieren. Hierfür setzte sich die Kollegin aufrecht auf einen Stuhl und entspannte sich einige Minuten lang so gut sie konnte. Dann wurden Messungen mit den Augen offen und geschlossen verglichen und die Aufzeichnung erfolgte, als es nicht mehr möglich war, noch niedrigere Werte zu erzielen.


In der Folge kaute die Kollegin auf einem FreeBite air medium. Dabei sollte sie darauf achten, dass sie immer nur kurz und locker zubiss und keinesfalls presste. Alle drei oder vier Kauschläge sollte sie den Mund weit genug öffnen, sodass die Zähne keinen Kontakt mit dem FreeBite mehr hatten. Nach 15 Minuten wurde die EMG-Messung wiederholt, wofür der FreeBite aus dem Mund der Kollegin entnommen wurde, sie jedoch nicht mehr auf die eigenen Zähne zubeißen durfte. 


Innerhalb dieser 15 Minuten hatte sich die Ruhespannung in der gemessenen Muskulatur erheblich geändert. Die folgende Darstellung zeigt die Messwerte im Durchschnitt, jeweils 15 Sekunden lang aufgezeichnet, mithilfe von je zwei nebeneinander stehenden Säulen:


Es zeigte sich eine Verringerung der Ruheaktivitäten von bis zu 63 %. Interessant zu beobachten war auch, dass diese Effekte nicht auf die Kaumuskeln (M.m. temporalis und masseter) begrenzt blieben, sondern auch die Nackenmuskeln (Mm. trapezius und scm.) mit einschlossen. Die veränderten Muskelzüge in der Ruhelage resultierten erwartungsgemäß auch in einer veränderten Kieferhaltung. Beim lockeren Schließen gelang es der Kollegin nurmehr, Zahnkontakt auf einer Seite zu erzeugen!

Am darauf folgenden Tag sollte im Vergleich dazu der Effekt von TENS elektromyografisch vermessen werden. Diese Messungen sind ungeeignet für die Ermittlung von festen Werten, denn einerseits sind diese – ähnlich dem Puls oder pH-Wert – physiologischen Schwankungen unterworfen, andererseits erzeugen auch schon geringe Abweichungen in der Elektrodenqualität oder -platzierung Abweichungen in den Messwerten. Zuverlässig gemessen kann daher nur innerhalb einer Sitzung werden, indem die Elektroden aufgelegt bleiben und Ruheaktivitäten vor und nach einer Maßnahme miteinander verglichen werden. So musste zunächst der habituelle Basiswert neu ermittelt werden.


Auffällig war hier die bereits eingangs verringerte Ruhespannung im Vergleich zur Messung am Vortag. Die Kollegin hatte nachts den FreeBite air medium getragen – vielleicht war dies der Grund. Jedoch musste nun die Wirkung des TENS im Vergleich zum neuen Basiswert ermittelt werden. Hierfür wurde die Kaumuskulatur 50 Minuten lang mit niederfrequenter TENS behandelt, wie für die Vorbereitung eines Myozentrikregistrates üblich. Wiederum wurde die Einnahme der habituellen Verzahnung durch Zwischenlegen des FreeBite air verhindert. Die Kontrollmessung erfolgte mit dem gleichen Procedere wie am Tag zuvor:


Die vergleichende Darstellung macht die Unterschiede deutlicher:


Auch hier war der M. temporalis links nicht ideal entspannbar, aber der Ruhetonus aller gemessenen Muskeln bewegte sich in einem akzeptablen Bereich und wiederum wirkte sich die Behandlung der Kaumuskulatur auf die Nackenmuskulatur aus – ein Hinweis auf mögliche deszendierende Störungen aus dem Biss. Nach Entnahme des FreeBites stellte die Kollegin erneut einseitige Zahnkontakte fest, wie am Tag zuvor.

Inzwischen konnten wir ähnliche Resultate in etlichen weiteren Fällen messen, am interessantesten vielleicht bei einer Patientin aus der Schweiz, die TENS-Geräte gewerblich vertreibt und die Vermessung nur widerwillig über sich ergehen ließ, weil sie kein Interesse an einer Methode zur Muskelentspannung hatte, die möglicherweise in Konkurrenz zu TENS steht.


In diesem Zustand hatte die Patientin Zahnkontakte nurmehr auf den Eckzähnen und hatte Mühe, die posterioren Zähne in Kontakt zu setzen.

Diese Patientin hatte auch eine interessante Anamnese: Nach einer kieferorthopädischen Behandlung war es 2001 zu Knackgeräuschen in den Kiefergelenken gekommen, woraufhin sie einen CMD Experten aufsuchte, der durch seine Veröffentlichungen bekannt war. Er riet ihr, nichts zu unternehmen, denn es gäbe keine belastbaren Studien, die zeigten, dass solche Geräusche behandlungsbedürftig sein. Jedoch setzten einige Monate später Kieferklemmen ein, die nun trotz etlicher Behandlungsversuche mit Schienen immer länger andauerten. In der Folge unterzog sich die Patientin mehreren Operationen an den Kiefergelenken, konnte aber erst 2012 mit einer Myozentrikschiene schmerzfrei gestellt werden. Jedoch war diese Schiene, die sie auch zum Essen trug, nach 6 Jahren weitgehend abgekaut und an etlichen Stellen durchgebissen und es kündigten sich erneut Beschwerden an. Direkt im Anschluss an die oben abgebildete Messung erfolgte eine 40-minütige TENS-Therapie, die in diesem Fall eine weitere Entspannung bewirkte:


Dennoch ist die Effizienz von aktivem, lockeren Kauen auf einem ausgleichenden Medium mit besonderer Unterstützung der posterioren Zähne im Biss, wie sie durch den FreeBite air medium gegeben ist, im Vergleich zur erheblich länger dauernden TENS-Therapie beeindruckend. In meiner Praxis setzen wir TENS jedoch nach wie vor ein. Das „FreeBite-Kauen“ bietet nun aber eine gut funktionierende Alternative für Patienten mit Herzschrittmachern, sowie solchen  Patienten, die sich mit der TENS-Therapie nicht anfreunden können. Auch für die schnelle Analyse von akkommodierten Unterkieferhaltungen erscheint es ein probates Mittel und der Patient kann diese Form der Muskel-Deprogrammierung auch besonders leicht zu Hause selbst durchführen.

Versuche zeigten, dass die Ausdehnung des „FreeBite-Kauens“ über 30 Minuten hinaus eher zur Ermüdung der Kaumuskulatur führt und keinen zusätzlichen Nutzen mehr bringt. Der Patient sollte seinen Kiefer in lockerer Bewegung halten und erfahrungsgemäß ist hierfür ein kürzerer Zeitrahmen von 10-15 Minuten ideal.

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