In den USA mischt gerade ein neues Buch die Ernährungsszene kräftig auf: „The Plant Paradox“ von Steven Gundry. Mit dem Untertitel „The Hidden Dangers of „Healthy“ Foods That Cause Disease and Weight Gain“ geht es hier um Obst und Gemüse, das er paradoxerweise für die chronischen Krankheiten und die Übergewichtigkeit der heutigen Zeit verantwortlich macht. Als „augenöffnende Lektüre“ und „Paradigmenwechsel in der Art und Weise, in der wir über Ernährung denken“ wird das 2017 erschienene Buch auf den Seiten des Verlags beworben und hat sich bereits auf der Bestsellerliste der New York Times etabliert.
Laut Gundry werden Übergewichtige und chronisch Kranke mit ihren nur scheinbar gesunden Diäten erneut hinters Licht geführt, wie auch schon mit der Behauptung, Fett mache fett, wo es doch das Insulin sei, das einen fett macht. Pflanzen hätten Strategien entwickelt, wie sie ihre Samen davor schützen können, aufgegessen zu werden. Dies geschehe mit „ chemischen Kampfstoffen“, so genannten Lektinen. Und die machen Menschen übergewichtig und chronisch krank. Neben seinen detaillierten Ratschlägen zur Vermeidung von fast allem heimischen Obst und Gemüse (nur Blattgemüse und ein paar exotische Früchte verbleiben am Ende) bietet Gundry auch eine Palette von Tabletten an, die man zu jeder Mahlzeit isst, um sich so vor den schädlichen Pflanzenlektinen zu schützen.
Wo hierzulande ein Autor ein Buch über Ernährung schreibt und sich freut, wenn davon tausend Exemplare verkauft sind, wird in den USA solch ein Buch meist mit Pauken und Trompeten beworben, erreicht schnell eine mehrfache Millionenauflage und wird spätestens, wenn es auf der Bestsellerliste erschienen ist, in andere Sprachen übersetzt, um sich über den gesamten Erdball auszubreiten, wie eine Welle. Eine Weile später ist die Aufregung dann wieder abgeebbt und alles kehrt in gewohnte Bahnen zurück – bis die nächste Welle anbrandet.
Die erste dieser amerikanischen Ernährungs-Wellen dürfte die Atkins-Diät im Buch „Dr Atkins’ New Diet Revolution“ gewesen sein, das von mehr als 15 Millionen Menschen gelesen wurde und den Beginn der Low-Carb Mode einläutete, der man auch Gundrys Buch zuordnen darf. Das Low-Carb Prinzip ist einfach: Wenn der Körper am Verhungern ist, speichert er nichts, sondern verbraucht Gespeichertes, also Fett. Der Trick ist nun, dem Körper das Verhungern nur vorzutäuschen, während man in Wirklichkeit ungeniert weiter schlemmt. Normalerweise nimmt man mit der Nahrung auch Kohlehydrate auf und an denen erkennt der Körper, dass Nachschub da ist, von dem er speichern kann, was nicht unmittelbar gebraucht wird. Geregelt wird das durch die Ausschüttung von Insulin und so hat das seit Anbeginn der Menschheit hervorragend funktioniert. Mit Low-Carb trickst man diesen Regelmechanismus aus, indem man einfach die Kohlehydrate weglässt, während man sich den Bauch vollschlägt. Eine neue Situation entsteht: Obwohl ein Überschuss an Nahrung vorhanden ist, fehlt das Insulin, um diesen zu speichern. Trotz vollem Bauch startet der Körper sein Hunger-Programm und verwendet nicht Glucose bei der Energiegewinnung in den Zellen, sondern Ketone, die dabei problematische Stoffwechselendprodukte zurücklassen, die irgendwie ausgeschieden werden müssen.
Schon die erste Low-Carb-Welle war von Widersprüchen begleitet und die merkwürdigen Umstände, unter denen Dr. Atkins verstarb, waren der Sache nicht gerade förderlich. Nach seinem Tod wurde es für eine Weile still um „Low-Carb“, bis der Trick von späteren Autoren wiederentdeckt und zu neuem Leben erweckt wurde - meist mit einer neuen Begleitgeschichte um den alten Kern versehen.
Peter D’Adamos Buch „Eat Right 4 Your Type“ (in der deutschen Ausgabe „4 Blutgruppen. Vier Strategien für ein gesundes Leben“) erschien in den 90er Jahren und fiel durch eine differenziertere Betrachtung aus der Reihe. Nicht für jedermann sei Low-Carb gleichermaßen geeignet, sondern nur für Menschen mit Blutgruppe 0. Denn „Low-Carb“ bedeutet letzten Endes mehr Fleisch in der Nahrung und die Vorfahren in der Evolutionsgeschichte von Menschen mit Blutgruppe 0 waren die edlen Jäger der Steinzeit, deren Metabolismus und Biochemie für den Fleischverzehr optimiert war.
Durchaus interessant an dieser Betrachtung ist die Tatsache, dass wir wissen, dass sich das Blut von Menschen so stark unterscheidet, dass eine Infusion mit der falschen Blutgruppe den sofortigen Tod bedeuten kann, ausgelöst durch eine massive Antikörper-Reaktion. Irgendwie haben wir uns jedoch an die Vorstellung gewöhnt, dass dadurch zwar klar wird, dass sich unsere Autoimmunreaktionen je nach Blutgruppe unterscheiden, dass dies aber keine Rolle spielt, solange es nicht um Bluttransfusionen geht. Daher ist die Idee, dass man grundlegende Reaktionslagen womöglich anhand der Blutgruppe unterscheiden kann, durchaus verlockend. Die Frage ist nur, ob die Empfehlungen des Autors, die sich ausschließlich auf seine empirischen Beobachtungen stützen, in jedem Fall treffsicher sind.
In den evolutionären Hintergründen beschreibt er, wie die Jäger im steinzeitlichen Afrika so geschickt und effizient wurden, dass sie das Großwild auf dem Kontinent annähernd ausgerottet hatten und daher gezwungen waren, auf der Suche nach neuen Jagdgründen nach Norden zu ziehen, nach Europa, das gerade von der Eiszeit wieder frei gegeben wurde. Irgendwann hatten sie das Umherstreifen satt, ließen sich nieder und bauten Getreide an, mit dem ihr fleischverwöhnter Verdauungstrackt aber nicht gut zurecht kam. Er musste sich anpassen und so entstand die Blutgruppe A. Menschen mit Blutgruppe A sollten daher wenig oder gar kein Fleisch essen und können dafür im Gegensatz zu denen mit Blutgruppe 0 Getreideprodukte ohne Probleme verdauen.
Allein, dieses Narrativ wirft eine Reihe von Fragen auf und ist teils auch wissenschaftlich widerlegt. Warum mutierten nicht alle Menschen zur Blutgruppe A, nachdem sie ihr Jäger- und Sammlerdasein aufgegeben hatten? Was war, bevor Menschen Waffen zum Jagen hatten? Hatten sie da Klauen und Reißzähne, wie alle anderen Raubtiere? Und schließlich wissen wir auch von Louis Liebenberg, dass die Geschichte vom Menschen als steinzeitlichen Jäger eher eine romantische Mähr ist. Er lebte mit dem letzten noch verbliebenen Nomadenstamm in der Kalahari Wüste zusammen, der sich eine steinzeitliche Lebensweise erhalten hatte und konnte aus erster Hand berichten, dass die Jagd in der Steinzeit ein extrem mühseliges Geschäft war.
Homo sapiens gibt es seit etwa 200 000 Jahren. Über die ersten 100 000 Jahre, also über die Hälfte unserer Entwicklungsgeschichte, wissen wir so gut wie nichts. Auch große Teile der zweiten Hälfte sind alles andere als geklärt. Wahrscheinlich ist, dass Homo sapiens und andere Hominiden, wie Nachkommen des Homo erectus in Asien oder den Neandertalern in Europa, gleichzeitig existierten. Es gibt Forscher, die in deren Aussterben den ersten Genozid in der Menschheitsgeschichte sehen, bei dem Homo sapiens Kreaturen, die er als Konkurrenten oder Bedrohung sah, systematisch ausrottete. Möglich ist, dass er Waffen hierfür und nicht für die Jagd entwickelte - somit wäre die treibende Kraft hinter der Entwicklung von Waffentechnologie bis heute unverändert der Krieg und nicht die Jagd! Die größte Verbreitung von Homo sapiens vor 125 000 Jahren auf dem riesigen afrikanischen Kontinent schätzt man auf maximal 1 Million Menschen. Die Vertrocknung des Kontinents dürfte eher der Grund für erste Völkerwanderungen gewesen sein, als die allzu effiziente Jagd von Großwild. Vor etwa 74 000 Jahren starb Homo sapiens selbst fast aus; man schätzt, dass damals die Gesamtzahl weltweit bis auf 10 000 Menschen sank.
Die Anthropologie wird uns kaum sinnvolle Ratschläge geben können, wie wir uns so ernähren sollen, dass wir davon nicht fett und krank werden, denn einen solchen Überschuss an Nahrung gab es in der Menschheitsgeschichte noch nie. Der Mensch ist auf Mangel angelegt, nicht auf Überfluss. Müssten wir einen Hirsch mit steinzeitlichen Möglichkeiten aufspüren, verfolgen, erlegen, zerlegen und irgendwie verzehren, so wäre das vermutlich derart anstrengend, dass wir alle lieber freiwillig zu Vegetariern würden! Verstehen kann man das heutige „Problem“ nur, wenn man bedenkt, dass eine ursprünglich kostbare Ressource (Fleisch) heute aufgrund industrieller Massenproduktion in jedem Supermarkt haufenweise zu Schleuderpreisen herumliegt. Wir müssen dem Fleisch nicht mehr hinterher rennen, um es zu jagen – es wird uns durch Werbung und andere Marketingmaßnahmen eher aufgedrängt! Egal, wie man es dreht und wendet, wir konsumieren viel zu viel davon. Und alles, was uns dazu ermutigen möchte, diesen maßlosen Überkonsum noch weiter auf die Spitze zu treiben, dient dem Umsatz der Industrie, aber nicht unserer Gesundheit.
Und auch den gegenwärtigen Konsum können wir uns schon nicht mehr leisten. Was das Geld anbelangt schon, nicht aber, wenn es um die Zerstörung unseres eigenen Lebensraums geht. Das Bundesumweltministerium bezeichnet die Massentierhaltung als einen „maßgeblichen Faktor“ bei der Produktion von klimaschädlichen Gasen. Wir verfüttern nicht Gras an Kühe, sondern Mais, wofür ihre Verdauung nicht geeignet ist und dabei werden Unmengen von Methan gebildet. Weiter geht es mit der Gülle und der Ausgasung aus den Böden. Über den unmäßigen Verbrauch von Trinkwasser und die Verschmutzung der uns verbleibenden Vorräte regt sich selbst die EU bereits auf. Man weiß heute unangenehm viel über die Schattenseiten dieser industriellen Tierzucht. Aber freilaufende Rinder verbrauchen viel zu viel Land, als dass man die Menschheit auch nur annähernd damit füttern könnte!
D’Adamo geht in seinem Buch aber noch auf ein anderes interessantes Thema ein: Lektine. Es sind dies Proteine mit spezifischen Bindungsstellen, die an der Zellwand andocken und bestimmte Reaktionen auslösen können. Gute, aber auch schlechte. Schlecht sind z. B. die Lektine in roten Bohnen, die giftig sind und einen umbringen können. Zum Glück werden sie durch Hitze deaktiviert. Also Bohnen gut kochen, dann entfalten sie statt einer tödlichen eine gesundheitsfördernde Wirkung! Gluten ist vielleicht eines der bekanntesten Lektine, das laut D’Adamo Unverträglichkeiten auslösen kann, und zwar hauptsächlich in Menschen mit Blutgruppe 0. Unverträglichkeiten und Reizdarm sind wiederum Themen, auf die Befürworter einer vegetarischen Ernährung meist nicht eingehen und hier könnten Lektine durchaus eine interessante neue Perspektive eröffnen.
Um die Blutgruppendiät ist es nach anfänglicher Euphorie wieder recht still geworden. Es gab wohl auch viele Ungereimtheiten. Mein eigener Vater hatte sich dafür begeistert und seine Ernährung gegen seine frühere Überzeugung auf einen hohen Eiweißgehalt umgestellt, denn er hatte die Blutgruppe 0. Aus der Hoffnung, so seine Krebserkrankung zu besiegen, wurde jedoch nichts. Im Gegenteil, der Tumor wuchs schneller, quasi als habe man ihn gedüngt. Dies bekräftigte mich in meiner Überzeugung, dass wir in Protein mehr einen Baustein für das Zellwachstum sehen sollten. Energie gewinnen wir wesentlich leichter und effizienter aus Fett und Kohlehydraten und diese Stoffe verwendet auch unser Körper, wenn er seine Ressourcen zwischen dem momentanen Bedarf und der Speicherung für die Zukunft hin- und herschiebt. In der Neuausgabe meines Buchs „CMD: Kein Schicksal!" habe ich im Kapitel über Ernährung daher meinen Ansatz beibehalten und betrachte, wie viel Protein der Körper braucht, um Zellen zu ersetzen, Hormone zu bilden, etc. Ablesen lässt sich das ganz leicht an der Muttermilch, die dem Säugling das gibt, was er braucht und zwar in einer Phase, in der der Mensch besonders schnell wächst. Und es ist viel weniger Protein, als man denken würde! Nein, um genug Protein in unserer Nahrung brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, selbst, wenn wir kein Fleisch essen.
Meine Frau hat ebenfalls Blutgruppe 0, ist aber schon seit Dekaden Vegetarierin. Mangels eigener Erfahrung weiß sie kaum, was Verdauungsstörungen oder Blähungen sind. Die müsste sie aber laut D’Adamo haben! Sie müsste genetisch bedingt viel zu viel Magensäure bilden, um Getreideprodukte effizient verdauen zu können. Stattdessen liegt ihr selbst Fisch unangenehm lange im Magen, so dass man sie auch zu dessen Verzehr kaum noch überreden kann. Der Körper ist sehr wohl dazu in der Lage, sein Verdauungssystem an die Erfordernisse anzupassen und ist seiner Genetik keineswegs hilflos ausgeliefert. Ein großer Bluttest im vergangenen Jahr bescheinigte ihr Werte wie bei einer 20-Jährigen, auf die man nur neidisch sein kann.
Steven Gundrys Buch verpackt somit im Prinzip schon dagewesene Konzepte neu und fügt nur hier und da einmal einen Gedanken hinzu. Mit dem „Paradox“, den Lektinen also, hatte sich D’Adamo bereits 20 Jahre zuvor ausführlich auseinandergesetzt und das Low-Carp Konzept gab es ebenfalls vorher schon in den verschiedensten Varianten. Gundry fügt dem hinzu, dass Lektine ebenso in tierischer Nahrung enthalten sein können, wie im Fleisch von Rindern, die mit Mais gefüttert wurden. Dabei wirft er einen interessanten Aspekt auf, wenn er anführt, dass es eben die Eigenschaften solcher Lektine sind, die bei der Genmanipulation gezielt vermehrt oder verpflanzt werden, um sie gegen Schädlinge resistenter zu machen. Wir brauchen selbst also nicht einmal genmanipulierten Mais zu essen, um unsere Darmwand Lektinen auszusetzen, die zum „Leaky Gut Syndome“ führen, es genügt völlig, das Fleisch von Tieren zu essen, die mit genmanipuliertem Mais gefüttert wurden. Angemerkt sei, dass die EU (noch) den Anbau genmanipulierter Nahrung für den Menschen weitgehend unterbindet, nicht aber den Import genmanipulierten Tierfutters für unsere Nutztierhaltung.
Seine Empfehlung zur Aufteilung des anteiligen Brennwerts ist ungewöhnlich: 10% Protein, 80% Fett und 10% Kohlehydrate. Blättert man nach hinten zu den Ernährungsplänen, so braucht man keinen Kalorienrechner, um zu sehen, dass dies nicht aufgeht. Eier zum Frühstück, Fisch oder Hühnchen zum Mittagessen… 10% Protein sind da schon nach der ersten Mahlzeit erreicht. Weitere seltsame Empfehlungen und Meinungen folgen, scheinbar plausibel verpackt, so dass man innehalten muss, um sie infrage zu stellen: Einen Liter Olivenöl soll jede Person pro Woche konsumieren, 5 Tassen Kaffee pro Tag und von Obst werde man fett. In YouTube kann man Videos mit dem Autor ansehen, bei denen er zeigt, wie gekocht wird: Konnten die Menschen in der Steinzeit Müsli mit Beeren zum Frühstück essen? Nein, konnten sie nicht, denn sie hatten ja keinen Kühlschrank! Also bereiten wir lieber ein Hühnchen für unser Frühstück zu. Und schon hat er eines aus seinem Kühlschrank geholt und zeigt dem Zuschauer, wie es gemacht wird…
Wie üblich wirft dieses Buch auch interessante Gedanken auf und ist im Übrigen auch kurzweilig zu lesen. Dabei stiftet es aber eher noch mehr Verwirrung. Die Lektüre sei nur dem Leser empfohlen, der die Möglichkeit zum eigenen Faktencheck hat, denn etliche der Literaturverweise beziehen sich auf etwas ganz anderes, als was im Text damit belegt werden soll. Offenbar hat der Autor nicht damit gerechnet, dass jemand seine Literaturzitate tatsächlich nachliest…
Apropos Steinzeit: Es gibt ein wunderbares Museum in Unteruhldingen am Bodensee, wo auf den Resten eines steinzeitlichen Dorfes am Seengrund ein Dorf aus Pfahlbauten originalgetreu wieder aufgebaut wurde. Dort lernt man, dass der Steinzeitmensch ein Alter von durchschnittlich 25 Jahren erreichte und sich einer gänzlich anderen Problematik gegenüber sah, als wir dies heute tun. Der Besuch ist besonders angesichts der Frage interessant, ob wir tatsächlich versuchen sollten, den Steinzeitmenschen in ihrer Ernährung nachzueifern! Dabei wird einem unweigerlich auch klar, wie wenig Wahlmöglichkeiten die Menschen damals hatten: Es gab nicht einmal ein einziges Produkt aus konventionellem Anbau und man war gezwungen, alles aus biologischem Anbau zu beziehen! Heute machen das nur noch Öko-Spinner in Wollsocken, oder?