Max Lüscher - Ein Pionier auf dem Gebiet der Emotionen
Von Sylvia Kirscht und Dr. Andreas Edelmann
Max Lüscher, durch seinen Farbtest der Öffentlichkeit bekannt als Schweizer Farbpsychologe oder «Farben-Papst», ist am 02. Februar 2017 im Alter von 93 Jahren in Luzern gestorben. Sein Leben galt bis zuletzt der Forschung. In unermüdlicher Hingabe untersuchte er den Zusammenhang zwischen dem inneren Erleben und seinem Bezug zur objektiven Realität sowie dem daraus sich formierenden subjektiven Ausdruck in allen Lebensbereichen. Er entwickelte ein kategoriales Denkmodell aus sechs Kategorien – direktiv - rezeptiv, konstant - variabel, integrativ - separativ –, mit denen die Emotionen und Motivationen und das daraus resultierende Verhalten beschrieben werden können.
Dieses Denkmodell – der Lüscher-Würfel – ist die Quintessenz seines langen arbeitsreichen Lebens und sein Vermächtnis an die Nachwelt. Mithilfe dieses Modells lässt sich die Ambivalenz menschlichen Denkens und Handelns verstehen, das zu unglaublichen Höhenflügen ebenso führen kann wie zu unfassbarer Grausamkeit. Der Lüscher-Würfel als Modell kategorialen Denkens ermöglicht ein Verständnis dieser Zusammenhänge. Versteht man dieses Modell, so zeigt es jedem den Weg aus einer noch so verfahrenen Situation heraus und zeigt, wie man das normale Gleichgewicht wiederfinden kann. Max Lüscher, der den Zweiten Weltkrieg als Schweizer nur am Rande erlebt hat, war als junger Mensch – nach seinen eigenen Aussagen – von den Gräueltaten des Krieges so erschüttert, dass ihn dieses Wissen um den Abgrund des Menschen niemals verließ. Sein Buch «Das Harmoniegesetz in uns» hat er regelmässig überarbeitet und erweitert. Es war sein Appell an das «unbewusste Wissen», das «Gewissen», das in jedem Menschen den harmonischen Ausgleich der Grund-Emotionen steuert. Das Buch wurde über lange Zeit ein Bestseller und in viele Sprachen übersetzt. Max Lüscher wandte sich mit diesem Buch an den gesunden Menschenverstand. Er war überzeugt, dass jeder Mensch ohne akademische Vorbildung dieses Modell soweit verstehen kann, dass es ihm hilft, die individuelle Egozentrik zu überwinden und ein sinnvolles harmonisches Leben zu führen.
Dazu bedarf es keiner Denkakrobatik, denn zu diesem Zweck entwickelte er ein nonverbales Verfahren, das es erlaubt mittels spezifischer Testfarben, das emotionale Regulationssystem auszuloten. Bereits mit 23 Jahren entdeckte er die Farbe als Testmittel. Zwar konnte er diesbezüglich auf Vorarbeiten der experimentellen Psychologie, der Psychophysik wie auch der Ausdruckspsychologie zurückgreifen, sein Anliegen ging jedoch weit über den einfachen Wirkzusammenhang der Farbe hinaus. Über Jahre hinweg suchte er nach psychologisch funktionalen Farben. Er experimentiere mit verschiedenen Materialien und Pigmenten. Er testete seine Farbergebnisse in langen Studienreihen an Patienten der psychiatrischen Kliniken in Basel. Die ersten Ergebnisse präsentierte er 1947 auf dem Weltkongress für Psychologie in Lausanne. Mit seiner Farbdiagnostik erregte er in der Fachwelt große Aufmerksamkeit.
Die Farben allein hätten ihn aber niemals auf seinen Weg gebracht, wäre da nicht sein Studium der Philosophie und Psychologie an der Universität Basel gewesen. Den Lehrstuhl hatte damals der Schweizer Philosoph Paul Häberlin inne. Diese Studienzeit war für ihn prägend und verhalf ihm über die einfache Farben- und Ausdruckspsychologie hinaus, seinen Testaufbau in einem spezifischen anthropologischen System zu verankern. Die Grundlagen dieses Modells legte er 1949 mit nur 25 Jahren in seiner Dissertation «Die Farbe als psychologisches Untersuchungsmittel» vor. Für diese Arbeit, die mit «summa cum laude» bewertet wurde, erhielt er große Aufmerksamkeit. Sein Testverfahren fand als innovatives psychologisches Diagnostikum der emotionalen Struktur Eingang in die psychologische Diagnostik. Max Lüscher präsentierte seine Farbdiagnostik von Anfang an im Kontext seines anthropologischen Modells. Der Schweizer Philosoph Jean-Claude Piguet 1952 schrieb in seiner Rezension: «Dieser junge Basler Psychologe versucht gleichzeitig eine Farbpsychologie und eine Charaktertypologie.» [Revue de Théologie et Philosophie, Tome II, Lausanne 1952, S. 341] In Bezug auf die Charaktertypologie betonte Piguet den philosophischen Ansatz, in dem französischer und deutscher Geist eine ungewöhnliche Synthese findet. Der rationalistische anstelle eines empirischen Ansatzes verwundert Piguet. Der Rückgriff auf apriorische Kategorien und die vehemente Verteidigung Lüschers, dass es nur 4 typologische Grundformen gibt, die alle möglichen menschlichen Verhaltensweisen beschreiben können, kommentiert Piguet erwartungsvoll. Mit etwas ironischem Unterton prognostizierte er, dass man, wenn auch die durch empirische Bestätigung wissenschaftliche Untermauerung dieser Sicht erfolgt ist, auf die weitere Arbeit dieses jungen Psychologen gespannt sein könne. «In Erwartung des Tages, an dem die Psychologie die Strenge und die Wirksamkeit der Physik erreicht hat, danken wir Herrn Lüscher, dass er uns dazu verholfen hat, auf die enge Verbindung von Psychologie und Metaphysik zu reflektieren.» [a.a.O. S. 342]
Ungeachtet der skeptischen Äusserungen seiner Zeitgenossen folgte Max Lüscher stringent seinem Forschungsprogramm. Nach seiner Dissertation wurde er für 3 Jahre in das anthropologische Institut der Stiftung Lucerna gewählt. So konnte er sein anthropologisches Modell weiterentwickeln. Bereits 5 Jahre nach seiner Dissertation legte er 1954 sein anthropologisches Modell im Rahmen seiner Habilitation „Philosophische Anthropologie, Psychologie und Kultur“ unter Karl Jaspers vor, dem Nachfolger Paul Häberlins an der Universität Basel. Dies führte ihn unmittelbar danach zu einer Berufung nach Amsterdam. Es folgten weitere Lehraufträge an verschiedene Universitäten (z.B. Harvard, Yale, Melbourne, Rom, Graz und Santiago de Chile). Von 1978–90 unterrichtete er die Psychologie der Farben und Formen an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Linz. Er erfüllte die von Piguet so lapidar formulierte These gegen Ende seiner Schaffensperiode mit dem «Periodensystem der Emotionen».
Bei aller Strenge seines psychologischen Systems warnte er jedoch stets vor Einseitigkeiten, jede Abweichung vom Gleich-Gewicht der Kräfte sollte als eine Störung des regulativen Systems verstanden werden. Alle Formen von einseitigem Objektivismus und Subjektivismus, Empirismus und Idealismus, Individualismus und Kollektivismus, Moralismen und jegliche Art von Ideologien ordnete er in sein System als Ausdruck von übersteigerten Haltungen ein, die sich aufgrund des dynamischen Autoregulationssystems langfristig niemals etablieren können. Seine Antwort auf das Auf und Ab der Überzeugungen, Haltungen und Emotionen ist die Kultivierung der 4 Selbstgefühle – innere Zufriedenheit, Selbst-Achtung, Selbst-Vertrauen und innere Freiheit. Sie bilden die Basis der 4 charakterologischen Grundformen. Ein Gefühl dafür, was eine solche Kultivierung bedeutet, gibt Max Lüscher in einem Auszug aus seiner Habilitation «Psychologie und Psychotherapie als Kultur» [in: Psychologia-Jahrbuch 1955, Rascher Verlag, S. 172-214]
Vor dem Hintergrund der Vielfalt seines Schaffens und der Weite seines geistigen Horizontes scheint es eine Ironie des Schicksals zu sein, dass sich die Popularität Max Lüschers hauptsächlich aus dem «Kleiner Lüscher-Test» genannten Kurzform des «Klinischen Lüscher-Tests» speist. Der «Kleine Lüscher-Test» besteht lediglich aus 8 Farbkarten, die durch den Probanden in einer bevorzugten Reihenfolge angeordnet werden. Dieser äußerst populäre 8-Farben-Test wurde meist als ein Gesellschaftsspiel betrachtet, weniger als ein solides und verlässliches Instrument in den Händen professioneller Psychologen und Medizinern. Durch die Veröffentlichung dieser Kurzform folgte Max Lüscher dem damaligen Zeitgeist. Die dadurch erreichte starke Popularität wirkte sich jedoch in Fachkreisen negativ auf den «Klinischen Lüscher-Test» aus. Ursprünglich nur als schnelles Hilfsmittel für jedermann gedacht, kreidete man dem Lüscher-Test allgemein Unwissenschaftlichkeit und mangelnde Validität an. Diese Beurteilung der Methode hält bis heute an und wird meist unkritisch wiederholt und weitertradiert, ohne sich der Mühe einer eigenen Überprüfung zu unterziehen.
Das Verständnis für und die Verbreitung seines anthropologischen Modells sowie die Nutzung von Farbe als psychologisches Mittel zu den Emotionen des Menschen war für Max Lüschers stets eine Herzensangelegenheit. Um dies zu erreichen war er bis ins hohe Alter publizistisch sehr aktiv, verfasste neben vielen psychologischen Artikeln zahlreiche Bücher, die lange auf Bestseller-Listen rangierten, nicht nur „Der Lüscher-Farbtest“ und „ Der Lüscher-Würfel“, die in über 40 Sprachen übersetzt wurden, sondern auch „Signale der Persönlichkeit“, „Der 4-Farben-Mensch“, „Farben der Liebe“ sowie sein Standardwerk „Das Harmoniegesetz in uns“, welches den Farbtest aus den verschiedensten Bereichen betrachtet, sowohl intensiv von Theorie her als auch von den zahlreichen praktischen Anwendungen. Er war ein begnadeter Redner mit Charisma und Authentizität. Er wurde zu zahlreichen Konferenzen, Fernsehauftritten, Talk-Shows und Radio-Interviews eingeladen und noch bis kurz vor seinem Tode als Schweizer Farbpsychologe und „Farben-Papst“ zu verschiedensten Stellungnahmen betreffend Farbe, Emotionen, Lebensführung und bewusster Selbst-Steuerung gebeten. Sein umfangreiches bibliophiles Werk und die weitere Verbreitung seiner nach wie vor relevanten psycho-diagnostischen Methode wird von der Max-Lüscher-Stiftung und der Lüscher-Color-Diagnostik AG fortgeführt.
Gelegentlich konnte seine direkte unverblümte, aber immer der Wahrheit verpflichtete Art so manchen aus dem inneren Gleichgewicht bringen. Sein Humor und sein Ringen um wahre Menschlichkeit eröffneten aber gleichzeitig die Chance zu innerem Wachstum. Sein lebenslanges Forschen hat ihn zu einem tiefen Verständnis in das psychische Regulationssystem geführt – mit seinem Tod hinterlässt er eine große persönliche Lücke, mit seinem kategorialen Denkmodell aber hinterlässt er die Methode für jeden, der es annehmen will, diese Lücke zu schließen.