Laufen 3: Barefoot Running

Weiter

Das ist beim Barfußlauf anders, als beim Fersenlauf:

  • Man landet auf dem Vorfuß. Ohne Dämpfung wäre das auf der Ferse zu hart und schmerzhaft.
  • Statt den Fuß bei der Landung mit den vorderen Flexoren anzuheben und beim Abrollen dann kontrolliert abzulassen, wird der Fuß bei der Landung nach unten extendiert und im weiteren Verlauf mit den Extensoren in der Wade so kontrolliert, dass die Ferse wenig und kurz aufsetzt.
  • Dadurch ist der Fuß während des gesamten Bodenkontaktes muskulär stabilisiert und kann praktisch nicht nach innen in die Pronation knicken.
  • Das Sprunggelenk, sowie die Elastizität des Fußgewölbes und der Achillessehne werden als Federung und Energiespeicher benutzt, nicht ein Schaumkeil unter der Ferse.
  • Man muss mehr aufpassen, wo man hin tritt, denn man spürt die Bodenbeschaffenheit.
  • Fuß und Zehen passen sich bei jedem Schritt dem Untergrund an und arbeiten ständig mit, satt quasi im Fußbett zu schlafen.


Die wenigsten laufen jedoch tatsächlich barfuß. Bei den Schotterwegen in unserer Gegend mag ich mir das auch gar nicht vorstellen. Wahrscheinlich wäre der spitze Schotter aus der Mühle auch für Naturfüße von Eingeborenen kein guter Untergrund zum Laufen. Hinzu kommen Dinge, wie Glassplitter, die ein Verletzungsrisiko darstellen, das ich nicht eingehen will. Zum Glück gibt es aber „Barfußlaufschuhe“. Das kann zwei Bedeutungen haben:

  1. Schuhe, in denen man barfuß, also ohne Socken läuft.
  2. Schuhe, die ein dem Barfußlauf möglichst ähnliches Gefühl vermitteln.

DSC01643

Zwei Barfußschuhe kann ich miteinander vergleichen.

Praktisch jeder Sportschuhhersteller hat sie inzwischen im Programm. Zwei davon besitze ich selbst und konnte sie intensiv testen, den New Balance Minimus Trail und den Vibram Bikila Evo.

An die New Balance Minimus war ich, wie beschrieben, zufällig gelangt. Kaum einen Schuh habe ich zu so unterschiedlichen Anlässen und so oft getragen: Zum Laufen, Wandern, Einkaufen, Stadtbummel - einfach überall, wo nicht die Gefahr bestand, nasse Füße zu bekommen. Denn Nässe lässt er durch als laufe man nur mit Socken. Apropos, was ich anfangs nicht wusste: der Minimus ist in doppelter Hinsicht als Barfußschuh gedacht, durch die nahtlose Verarbeitung des Obermaterials kann man ihn auch ohne Socken tragen. Dafür sind meine jetzt zu groß, denn mit Socken war meine reguläre Größe beim Minimus zu klein, barfuß hätte sie vermutlich gepasst. Jedoch könnte ich ihn ohne Socken nicht so universell tragen.

Der Minimus passt sich der Fußform erstaunlich gut an. Ich habe eher große und schmale Füße, meine Frau recht kleine, die im Vorfuß eher breiter sind - beide haben wir im Minimus einen der bequemsten Schuhe gefunden, die wir je unser eigen nannten. Man findet übrigens Restbestände im Internet gelegentlich erheblich reduziert.

Der Minimus hat eine geringfügige Dämpfung, an der Ferse 4 mm mehr, als am Vorfuß, wobei die Sohle insgesamt recht dünn und flexibel ist. Steinspitzen spürt man durch die Sohle gut durch, aber nicht als spitzen Schmerz, sondern gerade noch im Komfortbereich. Die minimal zusätzliche Dämfung unter der Ferse verzeiht einen gelegentlichen Rückfall in alte Gewohnheiten und macht den Schuh auch beim Gehen in der Stadt auf hartem Untergrund angenehm zu tragen.

Den Vibram Bikula Evo musste ich mir einfach gönnen, als ich in Christopher McDougalls Buch „Born to Run“ immer wieder auf „Barefoot Ted“ McDonald stieß, eine Legende im amerikanischen Barfußlauf. 

Das Buch gibt es auch in Deutsch und es sei jedem empfohlen. Es ist eine Mischung aus Abenteuer und Sachbuch und dreht sich um die Tarahumara (oder auch „Raramuri“ genannt), ein Indianerstamm, der sich vor Hunderten von Jahren von spanischen Conquistatores verfolgt in ein unzugängiges Canyongebiet Mexikos geflüchtet hatte und dort bis in die Neuzeit unbemerkt ein urtümliches Leben führte. Die Geschichte, die immer wieder mit Abstechern in die sachlichen Hintergründe des Laufens ausgeschmückt ist, kulminiert schließlich im berühmten Copper Canyon Race, einem 50 Meilen Wettlauf in abgelegenem Gelände. Um die Wette liefen westliche Rekordläufer, wie Scott Jurek (7-maliger Gewinner des Western States 100 Mile Endurance Runs, U.S. Rekordhalter im 24 Stunden Ausdauerlauf mit 266 km), der als studierter Physiotherapeut mit allen Erkenntnissen der Wissenschaft trainiert und technisch perfekt ausgestattet ist, und die Tarahumara Indianer, die von Kind auf aus Spass und Notwendigkeit laufen und sich mit selbstgemachten Sandalen dabei gegen Kaktusstacheln schützen. Ihr Champion, Arnulfo Quimare, schlug am Ende Scott Jurek knapp und sicherte seinem Dorf so eine Jahresration Mais als Siegespreis. 

Barefoot Ted war ebenfalls dabei und absolvierte die Strecke gegen alle Wetten barfuß. Sicherheitshalber hatte er aber immer seine Vibram „Fünf-Finger-Schuhe“ dabei. Während dem Rennen begeisterte er sich für die schlichten Sandalen der Indianer und vertreibt Nachbauten davon jetzt als „Luna Sandals“.

Das ist auch das Besondere an den Bikila Evo’s: Sie sind tatsächlich nur noch minimal gedämpft, deutlich weniger, als die Minimus. Ich trage sie barfuß und nur zum Laufen, denn in der Stadt würde sich jeder danach umdrehen. Laut Anleitung kann man sie zum Waschen einfach bei 30° in die Waschmaschine werfen. Zur Auswahl stellt man sich mit den Fersen an der Wand mit dem größeren Fuß auf ein Maßband und misst die längste Stelle am Fuß. Auf der Vibram-Tabelle ergab das genau meine gewohnte Schuhgröße und die Schuhe passten auch sofort, wie ein Handschuh - ein Fingerhandschuh eben. Beim Anziehen muss man jede Zehe richtig einfädeln, was etwas mühsam sein kann. Ist man dann drin, wird der Schnürsenkel straff gezogen und arretiert mit einem Knebel von selbst. Der Überschuss wird mit einem kleinen Klettband fixiert - so ist alles aufgeräumt. 

Der federleichte Schuh sitzt eher wie eine Socke, jedoch ist der Fuß dennoch geschützt. Die flexible Sohle mildert Steinspitzen gut genug ab, um Schmerzesschreie zu vermeiden, aber die Stelle spürt man während der nächsten Schritte noch und nimmt sich vor, künftig besser aufzupassen. Auch ertappt man sich öfters bei unwillkürlichen Verrenkungen, um den Fuß an einer Stelle zu entlasten, wo ein Stein drückt. Das alles spielt sich jedoch noch in einem erträglichen Bereich ab. Die Sohle ist vor den einzelnen Zehen hochgezogen und schützt diese recht effektiv auch von vorne. Das unabhängige Gefühl der Zehen beim Laufen bringt einem unwillkürlich ein Lächeln ins Gesicht und auch, dass man sich gelegentlich ein Blümchen, oder einen kleinen Zweig zwischen den Zehen herauszupft, ist ungewohnt urig.

DSC01644

Die Zehen stehen in den Bikila Evo’s leicht aufgefächert.

Ich kann mit den Bikula Evo’s völlig unproblematisch über 1-2 Stunden unterwegs sein. Anfangs spürte ich allerdings Druckstellen am Fußballen, wo die Sohle nach innen etwas hochgezogen ist, so dass ich am Tag darauf lieber wieder meine Minimus anzog. Das hat sich nach einigen Malen dann aber gegeben. Irgendwie macht mir das Laufen mit den Bikila Evo’s noch mehr Spaß. Und, wenn ich von einem Lauf nachhause komme, sind meine Zehen kerzengerade. Fast würde ich diesen Schuhen eine therapeutische Wirkung zuschreiben wollen! Auf der anderen Seite mag es sein, dass man seine liebe Not damit hat, bei einem Hallux valgus die Zehen richtig einzufädeln.


Dieses Bild von Luis Escobar hält die Unterschiede fest, wie kaum ein zweites: Man sieht beide Läufer ziemlich flott unterwegs, unmittelbar vor dem Bodenkontakt mit dem vorderen Fuß, wobei die untere Beinmuskulatur bei jedem auf ganz unterschiedliche Aufgaben vorbereitet ist: Bei Scott Jurek hebt sie den Fuß und die Flexoren neben dem Schienbein sind angespannt, bei Arnulfo Quimare senkt sie den Fuß und die Extensoren in der Wade sind gespannt – nur die Zehen sind etwas angehoben. Dabei stellt sich fast von alleine die bereits beschriebene Supination des Fußes ein. Beim Barfußlauf werden vor allem die Wadenmuskeln trainiert. Das kann man leicht selbst ausprobieren, indem man barfuß über schwieriges Terrain geht, z. B. Kies: man wird ungern mit der Ferse aufsetzen, sondern mit den Vorfuß, weil man da den Fuß viel besser kontrollieren und möglichen Druckstellen von Steinen ausweichen kann. 

Dabei sei angemerkt, dass Scott Jurek in seinem Buch „Eat and Run“ beschreibt, wie er einige Jahre später selbst unter den typischen westlichen Läuferverletzungen litt, allen voran der Plantarfasciitis mit Schmerzen unter dem Fersenbein.  Jedoch liegt es mir als Laien fern, den Laufstil eines mehrfachen Rekordhalters zu kritisieren. Mir geht es nur darum, Erkenntnisse darüber zu sammeln, wie ich in meinem Alter noch Laufdistanzen steigern kann, ohne mir dabei solche Verletzungen zuzuziehen. Denn so viel habe ich bereits jetzt gelernt: Ich bin nie zu alt zum Laufen! Im Gegenteil, das Distanzlaufen ist vielleicht die einzige aerobe Sportart, in der ich mich auch jetzt noch gehörig steigern kann.

Und noch etwas sei angemerkt: Als Fersenläufer kann man ganz offensichtlich gute Zeiten laufen und wird keineswegs automatisch schneller, wenn man auf den Vorfußlauf wechselt. Das lebenslange Training in Schuhen mit gepolsterten Absätzen fördert Gewohnheiten, die mancher nur schwer wieder los wird. Es ist gut möglich, dass ein erfolgreicher Marathonläufer nach der Umstellung zunächst bekümmert feststellen muss, dass er seine früheren Zeiten nicht mehr erreicht, oder die Distanz nicht annähernd mehr schafft! Man muss Muskeln, Sehnen und Bändern viel Zeit geben, um sich umzugewöhnen. Auch verzeihen Minimalschuhe trotz allem noch noch recht viel, vielleicht zu viel. Man spürt z. B. nicht, ob man richtig aufkommt. „Richtig“ heißt, dass man sich die Haut an den Fußsohlen auch bei einem längeren Lauf nicht abschürfen würde, also, dass man mit möglichst wenig Reibung aufkommt. Puristen sagen gar, man solle auch einfach in billigen Strümpfen laufen: Schabt man ein Loch hinein, macht man etwas falsch!

Für uns war die Fragestellung aber eine andere: Meiner Frau wurde schon als Studentin prognostiziert, dass sie künstliche Kniegelenke brauchen würde, wenn sie nicht mit dem Laufen aufhöre. Das tat sie dann auch, als sich immer häufiger Knie- und Rückenschmerzen einstellten. Auch die besten Laufschuhe hatten nichts geholfen. Jetzt, mehr als 30 Jahre später, hat sie wieder mit dem Laufen begonnen - auf dem Vorfuß mit Barfußschuhen. Sie läuft absolut beschwerdefrei und genießt es unsäglich, unverhofft den Anschluss an die Fitness ihrer Jugend wieder zu finden!

© Rainer Schöttl 2024           Impressum          Datenschutz